Ursula Dietrichs konnte es nicht lassen. Sie strickte im Luftschutzbunker, zur Zeit des Rock’n’Roll und in der Reinbeker Grundschule. Warum? Das erzählt sie im Folgenden:
„Als Tochter einer fanatischen Handarbeitsmutter lernte ich früh stricken: zunächst Puppenkleider, bald aber auch wärmende Schals für die vielen Familienmitglieder und Wollsocken. Mir bereiteten die fünf Nadeln keine besonderen Schwierigkeiten: Hacke, Spitze, Abnehmen, Zunehmen – kein Problem unter Muttis Anleitung.
Später strickte ich aus Langeweile, zur Beruhigung, zur Abwechslung, aus Notwendigkeit, zur Freude, aus Interesse am Wollmaterial und an komplizierten Strickmustern. Ich strickte zu jeder Tageszeit, an den mannigfaltigsten, unmöglichsten Orten, in Freud und Leid. Stricken war für mich nicht nur ein Hobby sondern eine Leidenschaft.
Ganz besonders stolz war ich auf das ‘Stricken ohne Hingucken’, das bedeutete Arbeiten im Dunklen, vor dem Fernseher oder beim Lesen. Meine Schwestern beneideten mich um diese Fähigkeit, die natürlich nur bei Rechts- oder Linksmaschen funktionierte.
Rückblickend erkenne ich eine gewisse Vorliebe in meiner Strickproduktion bzw. in den unterschiedlichen Lebensjahrzehnten. In den 30er Jahren begann ich mit Schals und Wollsocken. (Ich hasste die kratzigen, langen Wollstrümpfe, die mit Gummistrumpfbändern an harten Baumwoll-Leibchen befestigt wurden! Die Dinger rutschten immer und ewig, – und abends brannten die Beine wie Feuer. Welch wunderbare Erfindung sind unsere Strumpfhosen heute!).
In den 40er Jahren nahm mich eine befreundete Nachbarin unter ihre ‘Strick-Fittiche’. Ich hatte in ihrer Wohnung kunstvoll gestrickte Decken aus goldfarbenem Garn entdeckt. So viel Chic gab es bei uns zu Hause nicht. Mein Ehrgeiz war geweckt. Frau Thomsen erklärte mir die Strickschrift und korrigierte manchen Fehler, der beim Verzählen auf der Rundnadel entstanden war. Aus war es mit dem Blindstricken und hopp-hopp-fertig, Ausdauer und Geduld waren gefragt bei jeder Runde (die bei großem Deckenformat fast eine Zeitstunde dauerte). Ich schenkte meiner Mutter die wirklich attraktiven Decken, die sie sehr liebte, wenn nur nicht das lästige Spannen nach der Handwäsche gewesen wäre!
Doch als wir in den Kriegsjahren so manche Nachtstunde im Luftschutzkeller verbrachten, kehrte ich zu meiner Schnellstrickerei zurück. Ich strickte gegen meine Angst an, hatte etwas in den Händen und döste nicht nur vor mich hin, auf jedes Geräusch von draußen horchend. Am liebsten hätte ich einen Endlos-Schal gestrickt bis zur Kapitulation! Aber dafür war die schwer zu beschaffene Wolle zu schade. Wir waren von der Schule oder auch bei den ‘Jungmädeln’ angewiesen worden, Wollsocken oder Fäustlinge für die Frontsoldaten zu stricken. So könnten wir zum ‘Endsieg’ beitragen, wurde uns eingeredet! Meine große Schwester hatte einen Schreibfreund an der Ostfront. So ließen wir unsere Produkte dem Otti und seinen Kameradenals Frontpäckchen zukommen.
Später kamen mir meine Sockenkenntnisse sehr zugute, als wir dringend Ringel-Kniestrümpfe brauchten zur Zeit des Rock’n Roll. Meine Eltern schüttelten nur den Kopf über diese Modetorheit, aber meine jüngere Schwester und ich fühlten uns up to date angezogen mit Petticoat und Ringelstrümpfen. Elvis Presley ließ grüßen!
Als in den frühen 60er Jahren meine beiden Söhne geboren wurden, und ich eine lange Baby-Pause einlegte, begann die ‘Produktion’ von Babyjäckchen, Mützchen, Fäustlingen, Kuschel- und Kinderwagendecken aus weicher Babywolle (Nomotta).
In den 80er Jahren entdeckte ich als Lehrerin mit den Kindern im textilen Werkunterricht neben der Herstellung von Strickpüppchen die Handpuppen, die man mit viel Geschick und Phantasie aus Strumpfsocken hervorzaubern konnte. Vorbild waren für uns die von unserem Guru der Lehrerfortbildung, Jens Hinrichs, kreierten Handpuppen Fu, Fulo und Ufu. Das waren die Begleit- und Spielfiguren der Fibel, die wir zu damaliger Zeit verwendeten. Wie haben alle Schüler/innen ihren roten Fu mit den Hundeschlappohren und seinen grünen Freund Ufu mit den roten Haaren geliebt! ‘Tafeltheater’ war der absolute Clou in der Reinbeker Grundschule!
In den 90er Jahren bekam ich innerhalb von 4 Jahren vier Enkeltöchter, und schon schnurrte wieder die Produktion von Babykleidung. Ich habe nicht gezählt, wie viele Stücke es waren (nicht zu vergessen die Röckchen für Barbies und andere Puppen). Da blieb nicht einmal mehr Zeit für eine eigene Stola!
Im Jahr 2000 entschloss ich mich, alle noch im Hause vorhandenen Bastelmaterialien mitsamt vielen Wollresten an die Alsterdorfer Anstalten zu schicken, damit ich nicht wieder in die Versuchung käme, meine Freizeit mit Stricken zu verbringen. Jetzt ruhen meine Hände, die ohnehin steifer und durch Krankheit verformter geworden sind. Und das tut gut. – Einen Rückfall hatte ich doch: ich strickte für den abgeliebten Teddy meines Sohnes Stephan ein Höschen. Er sah zu nackt aus mit dem abgeschabten Fell!“