Eine wahre Geschichte für Juraj zum 18. Geburtstag von seinem Opa Prof. Dr. Wolfgang Metz – Februar 2010
Der zweite Weltkrieg war gerade zu Ende. Ziemliches Chaos überall. Das merkte ich natürlich auch schon als Zehnjähriger, der ich damals war. Es gab ganz neue Gesetze, so schien es mir.
Nein, es gab eigentlich fast gar keine Gesetze mehr – wenn man unter Gesetzen das versteht, was man tun soll oder lassen muss. Denn die letzten Kriegstage, die knapp hinter uns lagen, hatten alles verändert. Die andauernde Angst vor Luftangriffen war einem Gefühl der unendlichen Freiheit gewichen. Man durfte eigentlich alles. Es gab keine Kontrolle mehr. Jede Hemmung, sich nicht „staatstreu“ zu verhalten, war gewichen – zu viel davon hatte man ertragen müssen.
Allerdings gab es eine neue Angst: Auch die vorher Kriegsgefangenen – in unserer Umgebung waren es meist Polen – hatten eine neue, gesetzlose Freiheit bekommen, nachdem sie von den anrückenden Siegern aus ihren Lagern befreit worden waren. Jetzt lebten sie ihre Wut über die jahrelange Demütigung und Zwangsarbeit unter den Nazis aus. Dabei unterschieden sie nicht: Alle Deutschen waren ihre Feinde und Opfer ihrer Rachsucht.
Marodierende Banden zogen durch unsere Straßen, und die Frauen und wir Kinder mussten schnell ins Haus, wenn sich Gruppen von mehr als zwei Fremden zeigten. Unsere erwachsenen Männer kamen dann, durch Trillerpfeifensignale zusammengerufen, mit Knüppeln, Beilen und Gartengeräten bewaffnet, auf die Straße, und ihr Auftritt war so entschieden, dass die anderen schnell verschwanden.
Aber es ging nicht immer gut. Eines Nachts hörte ich wieder den Lärm auf der Straße, eine kleine Gruppe brüllender und wahrscheinlich betrunkener Polen hatte sich dreißig Meter von unserem Haus entfernt versammelt. Ich wurde natürlich wach und schlich mich zum Fenster. Es gab kein Licht von Straßenlaternen, und die ganze Szene war kaum zu erkennen. Plötzlich hörte ich einen Schuss – einen einzigen Schuss.
Herr Hesse, unser Nachbar, ein stiller älterer Herr, war aus seinem Haus gegangen und hatte in seiner schlichten, ehrlichen Art versucht, die aufgebrachten Polen zu beruhigen. Sie stellten ihn an einen Laternenpfahl und schossen ihm mit einer Pistole ein Loch mitten in die Stirne. Ein einziger Schuss.
Soviel zur Situation damals. Man kann sonst nicht verstehen, weshalb wir Kinder etwas taten, was man aus heutiger Ordnungs-Sicht „kriminell“ nennen müsste.
Es war an einem schönen Sommer-Nachmittag 1945. Wie üblich, spielten wir Kinder draußen „auf der Straße“ irgendetwas. Man spielte immer dort, denn es gab nur ganz wenig Verkehr – und „drinnen“ war es völlig langweilig, denn es gab noch kein Fernsehen und keine Computer (selige Zeit! ). Natürlich passten wir auf, siehe oben. Aber man war daran gewöhnt, ständig mit irgendwelchen Gefahren zu leben.
So dachten wir uns auch nichts weiter dabei, als Richard und Ewald, beide so um die 18 Jahre, einen Vorschlag machten, der uns Kleinere ehrte, weil er so verwegen war.
„Wer kommt mit zur KuHa? Das geht, wir haben uns gestern schon mal hingeschlichen“.
Das muss ich erklären. „KuHa“ war die allgemein benutzte Abkürzung für „Kurbelwellenwerk Hamburg“ – ein im Krieg ganz wichtiger Rüstungsbetrieb. Er stellte Kurbelwellen für Flugzeuge her und lag ganz versteckt in einem großen Waldgebiet, das man bei Todesstrafe nicht betreten durfte. Alle Werkshallen waren auf den Dächern mit Bäumen bepflanzt, so dass die feindlichen Flugzeuge das Angriffsziel nicht ausmachen konnten. Tatsächlich fielen die der KuHa zugedachten Bomben sämtlich daneben!
Natürlich waren wir Kleineren verwirrt und erstaunt. Wie konnte man denn durch den jahrelang gesperrten Wald, der inzwischen wie ein Urwald war, hindurch finden zu dem Werk? Und was erwartete uns dort? Und was wollten wir dort?
Ewald gab Auskunft: „Da ist kein Mensch mehr drin, und wir können alles mitnehmen“. Das überzeugte uns – obschon wir uns nichts darunter vorstellen konnten, was mit „alles“ gemeint sein konnte.
„Was wollen wir denn mit Kurbelwellen anfangen?“ fragte Dieter.
„Ach Quatsch, da liegen noch ganz andere Sachen rum“, entgegnete Ewald, „Werkzeug und so was, wahrscheinlich auch Dosenfleisch und Butter, denn mein Vater hat gesagt, die Polen hätten die ganze Kantine verwüstet, der ganze Fußboden ist voll mit Mehl und Milchpulver und so was“.
Das überzeugte natürlich alle, denn damals waren ja so einfache Nahrungsmittel wie Mehl sogar Raritäten.
„Vielleicht sogar Schokolade“, träumte Rosemarie – und bewies damit außergewöhnliche Phantasie, denn auf etwas so Exotisches wie Schokolade konnte damals normalerweise keiner kommen.
Schnell liefen wir los – der Beschluss zu der Aktion, deren Gefährlichkeit uns erst danach langsam bewußt wurde, wurde spielerisch gefasst. Richard und Ewald, die Achtzehn- jährigen, hatten für uns Kleinere auch die absolute Autorität. Sie waren ja schon erwachsen, und daher waren ihre Meinungen gültig.
Wir liefen die Straße entlang, die den „KuHa-Wald“ begrenzte. Überall hoher Zaun und Stacheldraht, das kannten wir natürlich schon, denn anders hatten wir den Wald die ganzen Jahre hindurch nicht gesehen. Und hinter dem Zaun dichtes Gebüsch und hohe Bäume. Aber es gab eine Stelle, an der man sich wie ein Hase unter dem Zaun durchwühlen konnte.
Dann im Wald: Meistens keine zehn Meter freie Sicht, man musste sich ständig durch dichtes Gebüsch kämpfen. Die Orientierung war nur dadurch zu erhalten, dass man die Sonne sehen konnte, denn Gott sei Dank war es ja ein strahlender Sommer-Nachmittag.
Aber das Ganze ging ja nicht geräuschlos ab. Da bekam ich zum ersten Mal etwas Angst, denn ich dachte an das Verbot und die Todesstrafe. Natürlich war schon klar – der Krieg war vorbei, und hier gab es niemanden mehr, der darüber wachte. Trotzdem….
Nach einer Stunde ungefähr standen wir vor einem weiteren Zaun, noch höher und dichter als der erste: Das Werksgelände. Wir beobachteten, auf der Erde liegend, das Gelände, soweit es einsehbar war – denn auch hier war alles dicht bewachsen. Aber man konnte schemenhaft irgendwelche Gebäude sehen, die in unauffälligen Farben angestrichen waren. Mein Herz klopfte …
Richard flüsterte: „Wir müssen eine Lücke finden, auch wieder unter dem Zaun hindurch“. Also krochen wir am Zaun entlang, wohl zehn Minuten. Dabei beruhigte sich meine Angst ein wenig, denn es war im Werksgelände tatsächlich kein Mensch zu sehen oder zu hören.
Aber dann sahen wir vor uns, hinter dem Zaun, einen hölzernen Turm, einen Wachturm. „Da oben steht doch einer“, flüsterte Georg, und wir alle erstarrten momentan, die Augen starr auf die oberste Plattform des Turms gerichtet. Das ging so eine Weile, und nichts schien sich auf dem Turm zu regen. Plötzlich stand Ewald kurz auf und warf einen ziemlich großen Stein gegen den Turm. Der Stein fiel auf die hölzerne Treppe und polterte Stufe für Stufe herunter – ein ziemlicher Lärm! Aber: Alles blieb ruhig. Also keine Angst und weiter!
Weil wir kein vorgegebenes Loch unter dem Zaun fanden, machten wir uns schließlich selbst eines, mit den Händen, immer abwechselnd. Dann hinein. Am Wachturm vorbei. Richard blieb zurück, und plötzlich sahen wir ihn die Holztreppe hinau schleichen. Was sollte das jetzt? Er stieg bis zur obersten Plattform, immer Ausschau nach allen Seiten haltend. Oben angekommen, spähte er lange umher, dann rief er mit verhaltener Stimme: „Niemand zu sehen, hier ist keiner“. Diese Feststellung ließ ihn anscheinend etwas übermütig werden, denn er warf etwas von oben herunter … Sandsäcke, rein „aus Quatsch“. Ich weiß nicht, warum da oben Sandsäcke gestapelt waren…
Dieser Übermut beruhigte uns alle, und wir schlichen ziemlich unbeschwert weiter.
„Die Halle da“, sagte Ewald halblaut, und es war wie ein Befehl. Also schlugen wir uns durch Farnkraut, Büsche und hohes Gras zu dem Gebäude durch. Dann standen wir vor einer hohen Wand, oben eine Reihe von kleinen Fenstern, unerreichbar.
„Hier entlang, da hinten ist eine Tür“, sagte Ewald. Es war eine Metalltür ohne Fenster. Vorsichtig drückte Ewald die Klinke herunter, ganz langsam – und tatsächlich, die Tür war nicht abgeschlossen, sondern ließ sich öffnen. Vor Schreck machte Ewald sie gleich wieder zu, denn das war nun eine neue Lage: Sollten wir in die Halle hinein? Oder lieber nicht?
Diskussion war nicht möglich, und es schien doch auch kein Mensch hier zu sein, und schließlich wollten wir ja sehen, ob es etwas mitzunehmen gab. Am entschlossenen Gesichtsausdruck unserer Anführer, die ja erwachsen waren, konnte man die Entscheidung ablesen: Rein in die Halle. Also vorsichtig die Tür geöffnet – dahinter war es ziemlich dunkel, eine hohe Halle, und von oben kam etwas Tageslicht durch die Fenster.
„Tür zu“, befahl Richard dem letzten, der rein geschlichen kam. Natürlich, man sollte ja von draußen keinen Verdacht schöpfen …. falls doch jemand auf dem Gelände war.
Wir schauten uns um, dicht zusammengedrängt. Es war eine Art Labor, mit Reihen von Regalen, auf denen viele große Glasflaschen standen. Darunter Tischreihen mit mir unbekannten Geräten, zum Teil aus Glas, zum Teil aus Metall. Ich richtete mich auf, um die Aufschriften der Flaschen zu lesen. Das meiste war mir völlig fremd, wahrscheinlich irgendwelche chemische Namen, aber auch „Schwefelsäure“ und „Salpetersäure“ – das hatte ich schon mal gehört, und es war etwas Unheimliches.
Auch die anderen fühlten sich jetzt sicherer und sahen mit großen Augen all die fremden Gegenstände an. So verteilten wir uns allmählich in dem riesigen Raum. Keiner achtete auf die dünne Eisentreppe, die an der einen Innenwand nach oben zu einer unscheinbaren Metalltür führte.
Plötzlich Geräusche irgendwo da oben! Da war doch jemand hinter der Tür! Schritte von einer noch unsichtbaren Person kamen näher, jetzt musste sie dicht hinter der Tür sein.
„Auf die Erde“ flüsterte Ewald, so laut es im Flüsterton ging. Wir verstanden sofort, und jeder schmiss sich so auf den Fußboden, dass er von der Treppe oben nicht gesehen werden konnte, also hinter die Labortische.
Da wurde oben ein Schlüssel ins Schloss gestoßen … jeden Moment musste jemand erscheinen. Ich hielt die Luft an und erstarrte, nur mein Herz raste. Den anderen ging es wahrscheinlich genauso. Georg, der in meiner Nähe lag, hatte seinen Kopf dicht in den Armen verborgen.
Der unheimliche Fremde rüttelte oben an der Tür, ich hörte etwas wie einen Fluch, in einer fremden Sprache, dann entfernten sich die Schritte. Ich konnte es zuerst nicht glauben. Gott sei Dank, dachte ich dann, und die Angst fiel langsam, sehr langsam von mir ab.
„Der hatte wohl den falschen Schlüssel“, flüsterte Georg, und wir mussten schon wieder etwas grinsen, als wir uns ansahen. Was wäre gewesen, wenn er uns entdeckt hätte – lieber nicht dran denken. Da kam der Flüsterbefehl von Ewald:
„Los, alle raus hier“. Na klar, der konnte ja wiederkommen, diesmal mit dem richtigen Schlüssel. Draußen drückten wir uns an die Hallenwand, damit wir von oben aus den Fenstern nicht gesehen werden konnten. Richard schlich voran, wir anderen in enger Reihe hinterher. Wohin jetzt?
Am Ende der Halle spähte Richard vorsichtig um die Ecke, eine ganze Zeit lang. Dann hatte er wohl ein neues Ziel ausgewählt und gab uns ein Zeichen mit dem Arm, ihm zu folgen. Wir schlichen jetzt auf eine zweite Halle zu, äußerlich ähnlich der ersten. Jetzt fielen mir die Sträucher auf, die auf beiden Hallendächern wuchsen – zur Tarnung für Flugzeuge, wie ich ja wusste.
Die Halle hatte ein großes Doppeltor, und das war offen! Das sahen wir schon aus einiger Entfernung, und die Frage war, ob da jemand gerade rein gegangen war und das Tor offengelassen hatte. Also traten wir nicht aus unserer Deckung heraus und beobachteten die Öffnung. Man konnte nicht gut erkennen, was in der Halle war. Nur, dass es ein einziger riesiger Raum war, denn man konnte bis zu den Fenstern auf der anderen Seite hindurchsehen.
Wir warteten vielleicht zehn Minuten – nicht passierte. Da gab uns Ewald ein Zeichen, zurück zu bleiben und schlich sich vorsichtig von der Seite an das Tor. Er steckte den Kopf hinein, spähte nach rechts und links, und machte tatsächlich ein paar Schritte hinein. Bei mir stieg die Spannung wieder gewaltig an. Jetzt war Ewald nicht mehr zu sehen. Was sah er denn bloß?
Da erschien er wieder, immer noch in gebückter Haltung, und winkte uns, hinzukommen. Als wir uns an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sahen wir uns erstaunt um. Die Halle enthielt eine Unzahl gleich aussehender Maschinen, mannshohe Kästen mit kleinen Zahnrädern, aber alles stand still, und ich konnte mir nicht vorstellen, was man mit diesen irgendwie zarten Ungetümen gemacht hatte. Sie standen in Reihen, wie auf den Feldern eines Schachbretts, dazwischen immer lange Gänge, in beiden Richtungen. Einen solchen Gang gingen wir ganz langsam und vorsichtig entlang. An jeder Kreuzung der Gänge hielt Ewald, der voranging, inne und peilte erst mal in den neuen Gang rechts und links. So ging es eine ganze Zeit lang, ziemlich eintönig: rechts eine neue Maschine, links eine, alle genau gleich. Wie in einer Geisterstadt, denn man fühlte, dass hier noch vor kurzem lebhafte Aktivität geherrscht hatte, jetzt aber lag alles still und tot da.
Plötzlich war mir, als hörte ich etwas, erst ganz undeutlich, dann beim Weiterschleichen, offenbar näher herankommend, genauer: Stimmen, kein Zweifel! Wieder schlug das Herz bis zum Hals. Wenn sie uns entdecken würden, könnte man natürlich im Gewirr der Maschinen immer wieder einen Haken schlagen und die Richtung wechseln, und schnell laufen konnte ich … Aber auf eine Verfolgungsjagd wollte ich es nun wirklich nicht ankommen lassen!
Allgemeine Verunsicherung. Was machten unsere Anführer? Ewald und Richard flüsterten etwas miteinander, dann machte Richard uns ein Zeichen, hinter einer der Maschinen zu warten, und schlich sich weiter den Gang entlang, wobei er an jeder „Kreuzung“ erst vorsichtig in beide Richtungen um die Ecke spähte, dann mit einem schnellen Schritt den Quergang überflog.
So kam er etwa zehn Gänge voran. Beim nächsten aber zuckte er zurück, nachdem er um die Ecke geblickt hatte. Nach kurzem Zögern sahen wir ihn erneut um diese Ecke spähen, als wolle er sich vergewissern, dass er richtig gesehen hatte. Er blieb jetzt eine ganze Zeit lang in dieser Position, schüttelte dann ungläubig mit dem Kopf und kam zu uns zurück. Grinste er nicht ein wenig?
„Das müsst ihr sehen“, sagte er fast begeistert, „aber vorsichtig, einer nach dem anderen“.
Als ich an der Reihe war, traute ich meinen Augen kaum: Mitten in diesem Quergang, aber weit entfernt, stand ein Mann in englischer Uniform, mit dem Rücken zu uns, vor sich ein großes Bild, das auf einer Art notdürftiger Staffelei stand – und er malte an diesem Bild! Ein Scheinwerfer war auf das Bild gerichtet. Es stellte, soweit ich erkennen konnte, einen Garten mit einer Frau dar, vielleicht seine Frau zu Hause. Auch das Gespräch konnte man jetzt besser hören, weil kein Hindernis mehr dazwischenstand. Der Soldat hatte aber offenbar mit seinem Gesprächspartner keinen richtigen Kontakt, denn er bewegte den Kopf überhaupt nicht, sondern schaute nur auf sein Bild.
Da erklang plötzlich Musik anstelle der Stimmen, und sofort war mir klar, dass es nur ein Radio war, was man hörte! Das war beruhigend, und auch die ganze Szene schien friedlich und ungefährlich, so dass wir alle erleichtert waren und einander entspannt ansahen. Der Mann sollte wohl die Halle irgendwie bewachen und fühlte sich offenbar völlig sicher. Hätte er geahnt, was sich hinter seinem Rücken abspielte… Er würde es nie erfahren, denn nun schlichen wir uns wieder durch das große Tor hinaus. Hier war ja sowieso nichts zu holen.
Aber wir wurden jetzt mutiger. Wohin konnten wir noch gehen? Man wusste, dass die Kantine in der Nähe des Haupteingangs zum Werk war, das war aber ganz auf der anderen Seite. Woher man das wusste? Die KuHa war der Haupt-Arbeitgeber in unserer Gegend, auch mein Vater war dort beschäftigt gewesen, als Abteilungsleiter im Einkauf. Weil das Werk so kriegswichtig war, mussten die dort beschäftigten Deutschen nicht zum Militär.
Also, die Kantine hätte uns zwar sehr interessiert, lag aber zu weit weg. Ewald wusste, dass es im Werk auch ein „Magazin“ gab. Das musste ein riesiges Warenlager sein, und da konnte man sicherlich etwas „mitnehmen“. Aber wo lag es? Richard fiel plötzlich etwas ein:
„Es gibt eine Bahnstrecke von ungefähr da aus…“, er zeigte in die Richtung „… in das Gelände. Da muss doch auch das Magazin liegen, weil sie von der Bahn aus Sachen anliefern“.
Bei diesen Überlegungen waren wir langsam weitergegangen, jetzt auf einem kleinen Weg, also nicht mehr durch Gebüsch, denn wir waren ja weniger vorsichtig geworden, weil anscheinend fast kein Mensch im Werk war. Der Weg ging jetzt in Richtung des vermuteten Magazins. Ich machte mir Gedanken: Warum haben die beiden Achtzehnjährigen uns Kleinere überhaupt mitgenommen? Sie konnten doch nicht wissen, dass das Unternehmen so glimpflich ablief, wie es bisher schien. Wollten sie nur vor uns angeben? Oder hatten sie sich vorgestellt, dass wir als Träger für ihre Beuteware dienen könnten?
Ich kam mit meinen Fragen nicht weiter, denn plötzlich hörten wir aus einiger Entfernung Hundegebell! Das war nun richtig gefährlich, denn vor einem Hund konnten wir uns nicht versteckt halten, jedenfalls nicht im Gebüsch. Ewald schaltete schnell:
„Los, da vorne ist ein Haus, da müssen wir rein!“
Wieder bellte der Hund, jetzt schon näher. Hatte er uns schon bemerkt? Wir rannten auf das Haus zu – es war anscheinend ein Wohnhaus, vielleicht für einen Werkswächter oder so etwas. Die erste Tür, eine Hintertür, war verschlossen, also weiter zur nächsten, es war eine Kellertür, mit einer kleinen Treppe hinunter. Auch verschlossen. Panik. Wieder bellte der Hund, diesmal sehr nah. Wir wagten nicht, um die nächste Hausecke zu sehen. Wir drängten uns in den kleinen Kellerabgang. Keiner wollte außen stehen, wegen des Hundes. Richard und Ewald blieben aber doch dort und schoben uns hinter sich.
Vorne an der Haustür rief eine Männerstimme: „Komm jetzt, Hektor“, und ein Schlüsselbund klirrte. Der Mann wollte offenbar in dieses Haus. Hoffentlich mit Hektor!
Der aber kam plötzlich um die Ecke, stutzte, als er uns sah – und kam schwanzwedelnd vorsichtig näher. Er bellte nicht – Gott sei Dank! Ewald erwies sich als geistesgegenwärtig und sagte ganz leise:
„Na komm mal her, Hektor…..braver Hund“, und streichelte Hektor, der sich neugierig und vertrauensvoll, wenn auch etwas verwirrt, zu uns begeben hatte. Eine Minute verging, Ewald streichelte noch immer. Dann wieder das Schlüsselgeräusch von der Haustür. Der Mann kam wohl wieder heraus und schloss hinter sich ab.
„Hektor, komm jetzt, wir müssen weiter“, rief die Männerstimme noch einmal, und Ewald sprach leise und intensiv zu dem Hund:
„Geh zu Herrchen“, und er zeigte mit dem Arm die Richtung. Nach kurzem Zögern verließ Hektor uns. Warum hatte er nur gebellt, bevor er uns entdeckte? Ich denke, das Herrchen hatte vorher mit ihm gespielt, Stöckchenholen oder so etwas. Dabei bellen Hunde gerne, aus Freude am Spiel.
Puh, das war wieder gut gegangen. Wir verharrten noch eine Zeit lang wie gelähmt. Richard schlich sich zur Hausecke und versuchte wohl zu sehen, wohin der Mann mit dem Hund verschwand.
„Sie gehen in die andere Richtung zurück, wir können ruhig weiter zum Magazin“. War er sicher, dass es der Weg zum Magazin war, und ob es überhaupt ein Magazin gab?
Die Frage schien sich bald zu beantworten, denn vor uns sahen wir zwischen den Bäumen eine Halle, ähnlich den vorher „besuchten“, aber ein einzelnes Eisenbahngleis führte von der Seite direkt hinein. Hier wurden also Sachen angeliefert und abgeholt – da sollte doch wohl einiges zu holen sein. Wir beobachteten die Halle aus sicherer Entfernung – nichts regte sich. Also schlichen wir langsam näher. Niemand hätte uns von drinnen sehen können, denn es gab auf dieser Seite keine Fenster oder Türen.
Als wir uns auf vielleicht zehn Meter der Wand genähert hatten, passierte es: Dieter stieß einen lauten Schreckensschrei aus, und warum? Ein Hase war aufgescheucht worden, der sich direkt neben ihm versteckt gehalten hatte und nun panikartig davon stürzte. Das machen Hasen so, sie warten bis zum letzten Moment. Aber Dieter hatte sich tödlich erschrocken.
Der Schrei hatte überraschende Folgen. Aus der Halle hörten wir Schritte, dort, wo die Schienen hineinführten. Mehrere Menschen kamen aus der Halle gerannt. Wir konnten nicht mehr fliehen, sondern legten uns automatisch auf die Erde, in Deckung. Hatte man uns jetzt doch noch erwischt?
Aber die Schritte kamen nicht auf uns zu, sondern entfernten sich über das Bahngleis, und zwar panikartig. Ewald richtete sich auf und schaute hinterher.
„Entwarnung, das waren drei Jungs. Die wollten wohl auch mal das Magazin besuchen“. „Mensch, die haben wir aber verjagt“, freute sich Georg.
„Ja, und jetzt können wir einfach reingehen“, ergänzte Richard, „da ist jetzt keiner mehr drin“.
Gesagt, getan. Wir gingen durch das große Eisenbahntor in die Halle und sahen uns erst mal um. Es gab viele kleine abgeteilte, zur Mitte der Halle hin offene Räume, mit Borden, die voll waren mit Dingen, die wir aus der Entfernung nicht identifizieren konnten. Es kam auch nicht viel Licht durch die oben gelegenen Fenster auf der einen Seite. Wir waren natürlich sehr neugierig und verteilten uns bald ganz ungeniert auf die einzelnen „Abteilungen“.
Ich fand zuerst ein großes Bord mit Werkzeugen. Wunderbare Zangen, Schraubenzieher, Bohrer, Feilen, viele mir unbekannte, aber interessant aussehende Geräte. In einer anderen Abteilung lauter Elektrosachen: Glühbirnen, Sicherungen, Stecker, Draht aller Art, Messgeräte. Dann ein Bord mit Bürosachen: Hefte, Blöcke, Bleistifte, Radiergummis. Sehr interessant auch mehrere Borde mit Konservendosen: Marmelade, Rindfleisch („aus Wehrmachtsbeständen“), Eipulver.
Kurz, ein wahres Schlaraffenland. Es waren ja alles Dinge, die es „draußen“ zu der Zeit gar nicht gab. Und alles so nützlich! Alle stellten sich kleine Häufchen zusammen mit dem, was sie versuchen wollten mitzunehmen. Denn jetzt gab es ein Problem: Wie sollte das alles transportiert werden? Wir hatten ja keine Transportgefäße mitgenommen, weil der ganze Raubzug ja spontan beschlossen worden war.
„Leute, es wird langsam dunkel“. Ewald rief zum Aufbruch (natürlich leise). So musste jeder sich entscheiden, was er mitnehmen wollte – und den Rest schweren Herzens zurücklassen.
„Vielleicht kommen wir ja noch mal her“, tröstete Rosemarie sich und die anderen. „Ja, aber ihr dürft keinem davon erzählen, sonst gibt es eine Völkerwanderung“, witzelte Ewald.
Jetzt sah ich, dass Ewald etwas Besonderes gefunden hatte: Ein Scherenfernrohr. Besser gesagt: Die zwei Hälften, die noch nicht zusammen montiert waren. Zwei Riesenapparate, wohl einen halben Meter groß, unten das kleine Okular (zum Reinsehen) und oben das Objektiv, eine große Linse. Zwei solcher Teile wurden dann X-förmig in der Mitte drehbar zusammen montiert.
Aber wir mussten los. Ich stopfte meine Hosentaschen voll mit einer Kombizange, einem elektrischen Messgerät (wofür? aber schön), zahlreichen Sicherungen (die brannten bei uns dauernd durch), Bleistiften, Heftzwecken, Büroklammern. Mit den Händen und Armen trug ich Dosen: Fleisch, Fisch, Marmelade. Wir alle waren hoch beladen.
Entsprechend hinderlich wurde unser Rückweg. Gott sei Dank fanden wir ziemlich schnell unseren Durchschlupf im Werkszaun, und uns begegnete auch niemand mehr. Draußen, aber immer noch im Wald, mussten wir erst mal eine Pause einlegen und alles aus den Händen legen. Es gab dann noch ein paar Tauschgeschäfte: Marmelade gegen einen Hammer, ein Päckchen Nägel gegen eine Rolle Draht usw.
Mein ganzes Interesse galt den beiden Scherenfernrohr-Hälften von Ewald. Ich blickte durch eine davon und war hell begeistert: Eine riesige Vergrößerung, und alles ganz deutlich und scharf.
„Schade, dass ich das Fernrohr nicht gefunden habe“, sagte ich, und „eigentlich braucht man nur eine Hälfte“. Ganz absichtslos, wirklich.
„Stimmt“, meinte Richard zu Ewald, „die beiden Hälften kriegst du bestimmt nicht zusammen, da fehlen die Schrauben in der Mitte“. Und dann murmelte er noch etwas zu Ewald, und dieser nickte lautlos.
Wir zogen weiter. In unserer Straße angelangt, überlegte Dieter: „Was meine Eltern wohl sagen…“. Ja, das konnte noch unangenehm werden, denn mir ging erst jetzt auf, dass wir geklaut hatten. Oder galt das in diesen Zeiten nicht?
Wir gingen auseinander, jeder nach Hause. Da sagte Ewald zu mir: „Hier, du kannst das halbe Fernrohr haben“. Ich sah ihn ungläubig an. Konnte er so selbstlos sein?
„Ja, wirklich. Nimm es schon“. Ewald wuchs in meiner Vorstellung schlagartig zum größten Wohltäter der Menschheit. Hätte ich doch bloß nichts Schlechtes von ihm gedacht! Ich war tief gerührt und drückte ihm die Hand. Meinem großen Freund, der schon achtzehn Jahre alt war. Ein schönes Alter, in dem man richtig großzügig sein konnt !
Mein Vater war erwartungsgemäß entsetzt über unseren Raubzug.
„Das ist doch Plünderei, ihr habt euch strafbar gemacht!“ Meine Mutter war pragmatischer und beruhigte ihn: „Das sind doch alles lebenswichtige Sachen, und wir haben doch wirklich Notzeiten“.
Die offensichtlich nicht so lebenswichtigen Sachen wie die schöne Zange und vor allem das Fernrohr hielt ich mehr im Hintergrund. Allmählich sah mein Vater auch ein, dass wir das Fleisch und die anderen Nahrungsmittel dringend nötig hatten, denn es war wirklich eine so schlechte Zeit, dass man sich unnötige Skrupel nicht leisten konnte.
Das Fernrohr aber war mein „Hauptgewinn“. Lange noch und immer wieder ging ich auf den Dachboden und beobachtete aus dem Dachfenster heraus die ganze Umgebung.