Manfred Schuster verlebte seine Kindheit in Reinbek am Schmiedesberg – er kann viel darüber erzählen, aufgeschrieben hat er es in den 1990er Jahren.
„Actiones qui fieri solent. Soccessione temporum a memoria mortalium elabuntur, nisi scritto….
Handlungen die alltäglich geschehen, entfliehen mit dem Lauf der Zeit dem Gedächtnis der Menschen, wenn sie nicht aufgeschrieben werden…“
Herzog Adolf IV. von Schauenberg in einer Urkunde des Jahres 1229
Meine Kindheit am Schmiedesberg (5/8)
Das Gebäude und das Grundstück, welches ich jetzt beschreibe, ist mit das Wichtigste in meiner Jugend gewesen. Leider ist von der alten Bebauung nichts mehr vorhanden, das alte Haus wurde 1959 oder 1960 abgebrochen. Unserer Wohnung, etwas rechts gegenüber, lag das Haus Schmiedesberg 17. Es war ein recht altes Haus, das längst zum Schmiedesberg stand, nach hinten hatte es eine L-förmige Verlängerung. Es lag etwa einen Meter höher als der Schmiedesberg, der kleine Vorgarten wurde durch eine Feldsteinmauer begrenzt. Es war eingeschossig und hatte ein Krüppelwalmdach, über dem Eingang zum Gemüseladen war ein größerer Dacherker mit Satteldach. Von der Straße musste man fünf oder sechs Stufen hoch gehen, um in den Gemüseladen von Schlünsen zu kommen. Die Treppe hatte an jeder Seite einen Handlauf, der aus einem Rundrohr bestand.
Man kann dieses Haus als Kate, mit zwei Läden bezeichnen. An den Fenstern hingen etwas windschief Fensterläden. Am rechten Ende des Gebäudes war der Tabak-Laden von Lohse. Herr Lohse war schwerbeschädigt und saß im Rollstuhl hinter dem Tresen in dem winzig kleinen Laden, und bediente die Kundschaft. Ich meine er war kriegsbeschädigt. Seine Frau bediente auch im Wechsel mit im Laden. Hinter dem Laden hatten die Lohses ihre Wohnung. Herrn Lohse war ein freundlicher Mann, der aber auf mich immer einen leidenden Eindruck machte. Seine Frau war klein und dünn und nicht freundlich, ich habe sie als Kind auch nie lachen sehen. Ich meine, dass sie es ziemlich schwer gehabt haben muss, mit dem kranken Mann und dem kleinen Laden; ich glaube, dass sie auch gar nichts zu lachen hatte.
Ich habe als Kind in dem Tabak-Laden öfters Streichhölzer gekauft. Ging man rechts von dem Haus auf das Grundstück, so kam man zu drei oder vier einzelnen Wohnungen. Die erste Wohnung wurde von Lohse bewohnt, in der Zweiten wohnte ein älteres Ehepaar, Oma und Opa Kemke, Herr Kemke war schwerhörig, seine Frau war eine Oma, wie man sie sich im Bilderbuch vorstellt. Beide waren meistens dunkel gekleidet. Herr Kemke wurde von uns Kindern Käpten Blei genannt; wir hatten etwas Respekt vor ihm. Er hatte ganz früher einmal eine Baustelle bewacht, ich kann nicht mehr sagen, welche Baustelle es war, die vorgenannten Wohnblöcke oder das Kohlenlager von Elsholz. Jedenfalls hat er uns Kinder weggejagt, wenn wir dort rumtoben. Wenn er in Sichtweite war, hieß es nur „Käpten Blei kommt“. Da er schwerhörig war, konnten wir Kinder ihn manchmal austricksen.
In der dritten Wohnung wohnte Frau Klein mit einem Mann zusammen, der Onkel Fritz genannt wurde. Werner Klein war der Junge mit dem Buckel, er war aber meistens nicht da. Dann wohnte dort noch eine Frau Klausen, die klein und etwas dicklich war, sie regte sich immer auf, wenn Olaf und ich zum zweiten oder dritten Mal ums Haus liefen. Dann kam sie aus der Haustür gestürzt und rief uns hinterher, dass wir frechen Kinder nicht ständig um das Haus laufen sollten. Sie war immer so leicht aufgebracht; ich meine, einmal hat sie uns sogar mit dem Kochlöffel gedroht.
Um zu Schlünsen zu kommen (Schmiedesberg 13, wo früher das Fischgeschäft Stut war), konnte man entweder durch den Laden gehen, oder links an dem Gebäude vorbei auf den Hof. Vom Hof aus führte eine Tür zur Rückseite des Gemüseladens, ging man rein, so stand man hinten im Laden, nach rechts ging man hinter einem hohen Ladenregal, an dem offenen Wasserhahn (da war kein Becken und kein Ablauf, es stand meist ein alter Blecheimer darunter) vorbei, durch eine Tür in die Küche. Von der Küche ging eine Tür in das Wohnzimmer, welches zum Schmiedesberg lag. Das Haus hatte keinen Keller, in der Küche bestand der Fußboden aus breiten, großen Dielenbrettern, links stand der Küchenherd, rechts der Küchenschrank und am Giebelfenster stand ein Tisch mit Stühlen.
Jetzt aber noch mal zurück zum hinteren Eingang, wenn man nach links ging, dann war dort eine schmale steile Holztreppe, die in einer scharfen Rechtskurve nach oben zu den Schlafzimmern führte. Direkt in Verlängerung der Treppe war so eine Art Abstellraum, wo alte Werbeschilder, Leuchtwerbungen und allerlei Gerümpel lag, das Dachgeschoß war in diesem Bereich nicht ausgebaut, und das Sonnenlicht schien durch die nicht verstrichenen Dachpfannen. Alles war etwas staubig aber auch geheimnisvoll.
Der Gemüseladen war recht rustikal eingerichtet, kam man vom Schmiedesberg durch die massive Holztür, so war links ein Wandregal, rechts ein Tresen und dahinter auch ein Wandregal, vor einem lag der Verkaufstresen, mit der Ladenkasse, rechts konnte man über eine Stufe hinter die Tresen gehen. Es gab auch einen Kellerraum, so eine Art Kriechkeller, der durch eine Holz Luke geschlossen war. Über dieser Kellerluke war auch ein Wandregal, und dort lag unter anderem in einer Blechbüchse eine alte verrostete Pistole, die mal beim Ausheben einer Grube gefunden worden war. Ich habe diese Pistole einige mal gesehen, aber sie war für mich unheimlich interessant, da mich damals als Kind alles brennend interessierte was mit Waffen und Krieg zusammenhing. Der Krieg lag zu der Zeit auch erst knapp zehn Jahre zurück, und man hörte von den Älteren viel über ihre Kriegserlebnisse reden, mich interessierte dieses alles sehr.
In dem Laden standen eine Menge Gemüsekisten schräg an den Nebentresen gelehnt, im Schaufenster lagen auf einer schrägen Ebene Obst und Gemüse in den kleineren Holland-Kisten. In der Nähe des Fensters hing auch meistens eine große Bananenstaude, wo die Bananen nach Bedarf abgeschnitten wurden. Es gab dort auch Bier, Brause (Frisko und Tiesekta ) und Coca-Cola. Milch wurde dort auch verkauft und zwar die Flaschenmilch vom Gut Glinde; mit den Leergutkisten haben Olaf und ich sehr oft gespielt, man konnte damit Autos und Festungen bauen – es standen eigentlich immer ein paar auf dem Hof herum. In den Regalen waren Dosen mit Sauerkraut, Bohnen, Linsen, Suppen, sowie Puddingpulver. Alle paar Wochen kam ein Vertreter für Dosensuppen, das war der Herr Möhring, der seine Spargelchremesuppe anpries. Olaf hat ihn manchmal etwas veralbert mit seiner Spargelchremesuppe, er sah dann etwas pikiert aus und war eigentlich froh, wenn wir Kinder uns anderen Dingen zuwandten.
Das Gemüse und das Obst wurde von einem älteren Vierländer gebracht, denn Schlünsens hatten damals noch kein Auto, er hatte einen schwarzen Mercedes mit Anhänger, und hieß Harten. Als weiteres ist hier noch das große schwarze Telefon zu erwähnen, das im Laden stand, es war das erste Telefon welches ich in meinem Leben gesehen habe und über Jahre das Einzige.
Jetzt zur Familie Schlünsen, das Herzstück war Frau Schlünsen, die mit Vornamen Clara hieß, sie war die Geschäftsfrau, bediente im Laden, nahm die Bestellungen an, gab Bestellungen heraus, holte früher auch selber mit dem Fahrrad Obst und Gemüse vom Wochenmarkt, und brachte dieses auch zur Kundschaft, sie hatte immer eine dicke Geldbörse in der Schürzentasche, die aber nicht immer voll war.
Man kann mit Recht sagen, dass sie den Laden schmiss. Wenn ich so überlege fällt mir nichts Negatives über sie ein, sie war nett zu uns Kindern, und ich bekam öfters mal einen Apfel oder eine Banane von ihr, dass diese angestoßen waren oder eine kleine Stelle hatten fiel mir als Kind natürlich überhaupt nicht auf. Manchmal, wenn Olaf und ich uns über irgendetwas gestritten hatten, dann hielt sie natürlich zu Olaf, obwohl ich mich im Recht fühlte. Aus meiner heutigen Sicht kann ich jedoch mit Recht sagen, dass Frau Schlünsen eine Persönlichkeit war.
Ludwig Schlünsen, ihr Mann, war mehr ein Lebenskünstler, als Geschäftsmann. Er hatte dunkle, glatte nach hinten gekämmte Haare und trug immer einen grauen Kittel, der manchmal etwas schmuddelig wirkte. Er war ein gutmütiger Mensch, ich kann aus den frühen Jahren nichts Negatives über ihn berichten. Später, als ich etwas älter war, habe ich dann gemerkt, dass er gerne Alkohol trank. Er ging mindestes einmal am Tag den Schmiedesberg hoch zur Gaststätte „Zur Linde“; die Wirtsleute hießen Brühahn, und trank dort Bier mit Klarem. Richtig betrunken habe ich ihn aber nie gesehen oder erlebt.
Im Geschäft spielte er jedenfalls die zweite Geige. Im Krieg war er in Russland gewesen, und er hatte auch einen Orden für die starken Winter in Russland bekommen, es war der sogenannte „Gefrierfleisch Orden“, ein ca. 5,00 DM großer runder Orden aus Bronze. Auf diesen Orden komme ich später noch einmal zurück, denn er steht mit einer anderen Geschichte im Zusammenhang.
Olaf Schlünsen war der jüngste Sohn, er war etwas jünger als ich, aber nur geringfügig, was aber doch dazu führte, dass wir nicht zusammen eingeschult wurden; ich kam ein Jahr früher zur Schule. Mit Olaf habe ich die meiste Zeit verbracht, wir sind zusammen aufgewachsen, bis zum 1. April 1956, da zogen wir in die Soltaus-Koppel; dann noch mal im 4. Schuljahr, wo wir zusammen in einer Klasse bei Fräulein Hastedt waren, und dann die Jahre 1960 bis 1963 wo ich als Laufjunge bei Schlünsen Obst und Gemüse ausgetragen habe (unter anderem im neuen Laden).
Dann war da noch Gunnar Schlünsen, Olafs älterer Bruder, er war wohl zwei Jahre älter als ich, als Kind bin ich ihm oft begegnet, aber wir haben nicht zusammengespielt, er war einfach schon zu alt. 1963 haben Gunnar, Olaf und ich zusammen eine Deutschland-Tour mit dem R 4 gemacht, wir sind bis Trier runtergefahren. Da habe ich mich mit Gunnar recht gut verstanden. Ich habe in den ganzen Jahren eigentlich nie erlebt, dass er mal Blödsinn machte, er war recht besonnen, im Gegensatz zu Olaf und mir.
Olaf Schlünsen war etwas kleiner als ich; ich war sehr schlank und Olaf war etwas voller, ich hatte blonde lockige Haare, er hatte glatte dunkle Haare, ich war eher schüchtern und zurückhaltend, er war offener, hatte kaum Berührungsängste und war witziger. Olaf hatte die Angewohnheit, auf dem rechten Daumen zu nuckeln, auch noch als er schon etwas älter war, dabei hatte er in der anderen Hand einen schmuddeligen, unförmigen Lappen, den er an einer Seite zu einer Spitze gezwirbelt hatte, um sich damit in der Nase oder im linken Ohr zu kitzeln. Diesen schmutzigen Lappen nannte er „DIES“. Er hat mir mal erzählt wo der seltsame Name DIES herkommt. Und zwar hatte ihn seine Mutter, als er noch ziemlich klein war, zur Beruhigung oder zum Schlafen einen Stofffetzen gegeben und dabei gesagt: „Nimm dies –„. Es war ein typisches Bild, wenn Olaf den Daumen im Mund und in der anderen Hand den Stofffetzen (DIES) hatte und sich damit in der Nase kitzelte. Durch das Spielen und Rumtoben kam es natürlich auch oft vor, dass wir als Kinder schmutzig und dreckig waren, ich meine sogar, wir waren ständig schmutzig und dreckig, aber der eine Daumen von Olaf war immer sauber und blütenweiß.
Auf dem Hof hinter dem Haus haben Olaf und ich meistens gespielt. Vor dem hinteren Eingang zum Laden war eine waagerechte Eingangsüberdachung, die zweiseitig am Haus angebracht war und an der Ecke der freien Seiten eine dünne Rundholzstütze hatte. Das Regenwasser lief über einen Wasserspeier zu dieser freien Ecke und fiel dort im freien Fall auf die Erde. Hier haben wir oft gespielt, wenn es regnete. Rechts neben dieser Überdachung standen meistens die Kisten mit den Abfällen von dem Obst und Gemüse.
Wieder rechts von diesen Kisten war später ein offener Fahrradschuppen aus Holz. Auf dem flachen Dach von diesem Unterstand haben wir – das sind Olaf und ich – einmal Dachdecker gespielt. Zuerst haben wir Löcher in die Dachpappe gehauen, und dann mit Pappnägeln und Dachpappenstücken die Löcher wieder zugenagelt. Seitdem hat es dort immer leicht durchgeregnet. Auf dem Hof stand noch ein einzelner Holzschuppen mit einem flachen geneigten Dach, daneben stand jahrelang ein Fliederbaum, ich glaube der Schuppen gehörte zu Lohse, denn, wenn wir auf diesem Schuppendach spielten, kam es vor, dass Frau Lose herauskam und schimpfte.
Vor den Kisten mit dem alten Obst und Gemüse stand das Leergut der Milchflaschen vom Gut Glinde. Mit diesen Leergutkisten haben wir oft gespielt, man konnte gut ein Auto damit bauen oder ein Haus oder eine Festung. Hinter dem Haus, an der Grenze zu der Kohlenhandlung Elsholz war ein flaches Schuppengebäude in dem die Klos waren. Es waren regelrechte Scheißhäuser, wobei jede der Mietparteien ein einzelnes für sich hatte. Man saß auf einer Holzbank über bzw. auf einem runden Loch und machte sein Geschäft in einen großen Eimer; war man fertig, wurde mit einer kleinen Handschaufel Torf darauf gestreut, damit es nicht so stank. Diese Eimer wurden ein- oder zweimal in der Woche von Höge mit Pferd und Wagen abgeholt.
Der Kutscher war ein kleiner, alter und hagerer Mann, der den Namen Franz hatte, er hatte ein ziemlich faltiges, zerknittertes und meistens unrasiertes Gesicht. Höge, das war in meiner frühen Jugend, die Reinbeker Müllabfuhr, mit Pferd und Wagen holperte sie über das Kopfsteinpflaster. Auf dem Wagen waren meistens zwei Frauen in alter Kleidung, die den Müll sortierten. Beim Ausleeren der Müllgefäße staubte es natürlich erheblich, und die Frauen sahen auch entsprechend aus. Vorne saß der Kutscher, der auch die Müllpötte hoch reichte. Ich habe als Kind dem Pferd öfter ein Stück Brot oder eine Mohrrübe gegeben.