Manfred Schuster verlebte seine Kindheit in Reinbek am Schmiedesberg – er kann viel darüber erzählen, aufgeschrieben hat er es in den 1990er Jahren.
„Actiones qui fieri solent. Soccessione temporum a memoria mortalium elabuntur, nisi scritto….
Handlungen die alltäglich geschehen, entfliehen mit dem Lauf der Zeit dem Gedächtnis der Menschen, wenn sie nicht aufgeschrieben werden…“
Herzog Adolf IV. von Schauenberg in einer Urkunde des Jahres 1229
Meine Kindheit am Schmiedesberg (6/8)
Das nächste Gebäude, Schmiedesberg Nr. 19, war das Haus von dem Schlachtermeister Troll. Im Erdgeschoß war der Schlachterladen. Der Laden war ein länglicher Raum, der sich nach hinten zog, rechts neben der Eingangstür war ein Schaufenster. Ging man in den Laden, so war rechts ein langer Tresen, unten aus Marmor, oben aus Glas. Hinter dem Tresen vor der Wand hingen die Schinken und Würste, Aufschnitt und Hack etc. lagen im Tresen hinter Glas.
Der alte Herr Troll war ein würdiger alter Herr. Wenn er spazieren ging hatte er in der rechten Hand den Spazierstock, den Rücken kerzengerade, den Bauch weit nach vorne gestreckt, und so stolzierte er mit seinen weißen Haaren den Schmiedesberg entlang. Seine Frau war eine kleine, dünne, spitznasige Frau mit weißen Haaren, die nach allen Seiten vom Kopf abstanden. Frau Troll war sehr gesprächig, sie konnte lange Gespräche über Belanglosigkeiten führen. Sie ging oft zu dem Architekten Theo Pichinot, der in der Parkallee wohnte und mit der Tochter von Troll verheiratet war.
Zu dem Haus in der Parkdalle konnte man auch vom Schmiedesberg aus durch einen schmalen Gang kommen, der rechts neben dem Grundstück von Bolsen dorthin führte. Entweder ging Frau Troll dort hin oder sie war auf dem Rückweg von dort, es kam mir als Kind jedenfalls so vor. Mit Ute Pichinot, der Tochter von dem Architekten Pichinot, bin ich eingeschult worden, und wir waren vom 1. bis zum 4. Schuljahr in einer Klasse bei Fräulein Neumann.
Meine Mutter hatte keine so gute Meinung vom Schlachter Troll, die Ursache dafür lag weiter zurück, nämlich in der schlechten Zeit. Damals gab es noch Lebensmittelmarken, wonach nur begrenzte Rationen an Lebensmitteln, hier Wurst und Fleisch, abgegeben, bzw. verkauft wurden. Schlachter Troll war damals wohl sehr genau und gab kein Gramm mehr heraus als er musste. Da unsere Familie zu der Bevölkerungsgruppe der Flüchtlinge gehörte, und Troll, der ein Uralt-Reinbeker war, meine Mutter wohl etwas von oben herab bedient hatte, nahm sie ihm das übel. Wenn sie dann (in den 50er Jahren) bei Troll Wurst oder Fleisch kaufte, kam oft von hinter dem Tresen die Frage „Darf es etwas mehr sein?“, dann sagte sie knallhart „nein“. Draußen vor dem Laden meinte sie dann: „Der hat uns früher kein Gramm Zuviel gegeben, und jetzt will ich nicht mehr haben“.
Manchmal musste ich für meine Mutter einkaufen gehen, und wenn ich dann zum Schlachter Troll musste, kam es oft vor, dass irgendwelche Frauen vor mir dran waren, die lang und breit über andere Menschen oder Krankheiten mit der Bedienung redeten, und ich musste warten und warten, das war aber in anderen Geschäften ähnlich. Diese Art Geschäfte gibt es heute kaum noch. Damals zumindest gab es noch keine Selbstbedienungsläden, und wenn die Frauen sich in den Geschäften trafen, dann wurde erzählt und erzählt. Als Kind hat mich das oft gestört, weil ich dann so lange warten musste.
Hinter dem Wohn- und Geschäftshaus vom Schlachtermeister Troll (das Baujahr war 1888) war noch ein Gebäude, in dem sich Garagen, die Schlachterei und ein paar kleine Zimmer befanden. Die Längsseite des Gebäudes grenzte an das Grundstück von Schmiedesberg 17, der Schuppen, in dem die Toiletten für Schmiedesberg 17 waren, stieß direkt mit dem Giebel an diese Längsseite. Olaf und ich haben manchmal in die Fenster dieser zwei kleinen Zimmer geguckt; dort wohnten junge Hausmädchen die wohl bei Troll gearbeitet haben. Das eine Zimmer war an den Wänden mit Bildern von Schauspielern und Schlagersängern beklebt, an einer Wand war ein lebensgroßes Poster von Peter Kraus. Diese Poster gab es in der Jugendzeitschrift BRAVO, und zwar musste man jede Woche ein Puzzleteil vom Körper des jeweiligen Stars ausschneiden und sammeln; nach ungefähr 10 Wochen hatte man dann seinen Lieblingsstar vollständig und konnte ihn an die Wand kleben. Ich habe das damals mit ungefähr 7 Jahren zum ersten Mal gesehen und war sehr beeindruckt. DieTrolls hatten auch einen Sohn, der Ulrich hieß und in der Schlachterei arbeitete. Als ich Kind war, war er schon ein erwachsener Mann, und ich hatte wenig Berührungspunkte mit ihm. Die Gebäude auf dem Grundstück stehen heute noch.
Das nächste Haus, welches jetzt kommt, ist natürlich Schmiedesberg Nr. 21, und in diesem Haus war das Geschäft von Erna Leicht; es war ein Lebensmittel- und Kolonialwarengeschäft. Erna Leicht war für mich als Kind eine ältere Frau, die viel redete. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass meine Mutter dort oft eingekauft hat. Nachdem ich meine Mutter neulich darauf ansprach meinte sie, dass sie dort regelmäßig einkaufte bevor der Konsum in der Bergstraße eröffnete. An den Laden selber, wie er innen aussah, kann ich mich nur sehr schwach erinnern.
Olaf und ich haben manchmal leere Flaschen gesucht und sie dann bei Erna Leicht abgegeben, um Pfandgeld zu bekommen; meistens waren es keine Pfandflaschen, und wir bekamen kein Geld. An eine Begebenheit erinnere ich mich noch sehr gut, es muss ungefähr 1954 gewesen sein, da kam Olaf mal mit einem „Brummschuh“ an – das war eine Werbung für Erdal-Schuhkreme. Der Brummschuh sah folgendermaßen aus: Es war ein Stück Pappe, welches die Form eines Schuhes hatte und etwa 10 cm lang war; parallel zu den Längsseiten war in einem Abstand von ca. einem halben Zentimeter ein Gummi gespannt, es war ein gelbes etwas breiteres Gummi. An dem Stück Pappe war vorne an der Schuhspitze ein weißes dünnes Band befestigt. Das Band nahm man in die Hand und machte mit dem Brummschuh schnelle, kreisende Bewegungen, dann fing der Brummschuh an zu brummen.
Das war nun eine Sache, die ich noch nicht kannte, und die für mich ganz neu war, und ich wollte auch gerne solch einen Brummschuh haben, besser gesagt, ich musste solch einen Brummschuh haben. Es gab ihn bei Erna Leicht für die Kinder der Stammkunden. Nachdem ich nun alle meine Hemmungen bei Seite gedrängt hatte, ging ich mutig in den Laden und verlangte von Erna Leicht auch solch einen Brummschuh. Aber sie war gar nicht so erfreut über meinen Wunsch und meinte, dass meine Mutter doch sonst woanders einkaufte und warum ich jetzt zu ihr kommen würde. Sie war auch leicht angesäuert, weil ich gerade in ein Gespräch platzte, welches sie mit einer Kundin führte. Nach einigem hin und her bekam ich dann doch meinen Brummschuh, ich war glücklich, aber vergessen habe ich diese Angelegenheit nicht.
Über dem Laden waren noch Wohnungen, das Gebäude hat, zum Schmiedesberg hin, im ersten Geschoß drei Fenster, und darüber im Giebeldreieck zwei Fenster. Wer dort wohnte, und wo das Treppenhaus für diese Geschoße war, wusste ich als Kind nicht. Jahre später, so am Anfang der 60er Jahre, wurde das Geschäft von einem jüngeren Ehepaar übernommen, die Frau war hellblond und hübsch.