Rosemarie Busse kam als Sechsjährige mit ihrer Mutter und Schwester und ihrem Großvater endlich im Westen an. Die Beschreibung ihrer Flucht aus Pommern hatte sie 2005 für die Ausstellung des Museumsvereins „Wege aus der Dunkelheit“ aufgeschrieben. Hier erzählt sie über die erste Zeit in Reinbek.
Endstation Reinbek
Eigentlich sollte unser Ziel Lübeck sein, aber das Lager war voll und so kamen wir nach Bad Segeberg in ein Lager, wurden untersucht, desinfiziert und in Nissenhütten auf Pritschen untergebracht. Unser Großvater war unterwegs krank geworden und musste im dortigen Lazarett bleiben. Wir aber wurden am 24. April 1946 in einen Güterzug verfrachtet und in Reinbek rausgesetzt. Dort wartete ein Lkw und brachte uns in das Forsthaus Schreck, das als Lager diente. Der ganze Saal lag voller Menschen, alle dicht an dicht. Neben meiner Mutter lag ein Mann mit einem amputierten Bein. Er verrichtete seine Notdurft in eine Blechdose, worüber sich meine Mutter sehr aufregte. Auch das weiß ich noch genau.
Nach ca. einer Woche wurden wir abgeholt und in die Bahnsenallee in ein Haus direkt am Wald gebracht. Dort kamen wir bei einer Familie Mett unter. Sie waren sehr nett und gaben uns sogar ein Federbett. Ein Bett stand in einer Nische des kleinen schrägen Zimmers. Darin schliefen wir zu Dritt. Familie Mett hatte außerdem Gartenmöbel in das Zimmer gestellt. Zum Essen gingen wir in die Baracke auf dem Gelände am Landhausplatz (Sachsenwald-Theater und -arkaden). An Graupensuppe aus Brennnesseln kann ich mich gut erinnern. Sie schmeckte übrigens sehr gut!
Ende April kam unser Großvater dann auch dazu. Als wir vom Essen kamen, saß er bei Familie Mett auf der Treppe. Die Freude war groß. Im Lager hatte man ihm allerdings seinen Rucksack, den er als Kopfkissen benutzt hatte, gestohlen, als er im Fieber lag.
Leider konnten wir bei Metts nicht bleiben. Herr Mett war von den Nazis verfolgt worden, so dass sie keine Flüchtlinge aufnehmen mussten. Wir kamen in die Bahnsenallee 18, und zwar auf den Dachboden, auf dem sich die Mädchenzimmer befanden. Die Villa war vollgestopft vom Keller bis zum oben mit Flüchtlingen, insgesamt 30 Personen! Der große Bodenraum war vollgestellt mit schönen (würde man heute sagen) alten Möbeln, aber das Zimmer, das man uns zuwies, war leer. Meine Mutter sagte, sie könne das Zimmer ganz ohne Möbel nicht nehmen. Wo sollten wir denn auch sitzen? Wir hatten ja alles verloren! Etwas widerwillig gestand man uns dann einen Sessel und einen Tisch zu. Während der Mahlzeiten saßen meine Schwester und ich auf der Fensterbank, Großvater im Sessel und Mutter stand. Nach einiger Zeit, als man uns wohl als anständig akzeptierte, bekamen wir ein Sofa (es wurde abends zur Wand umgerückt, damit Hannelore und ich nicht herausfallen konnten) und eine Waschkommode. Wir waren überglücklich. Auf Bezugschein kaufte Mutter zwei Holzhocker, die wir heute noch besitzen. In der Nische wurde Stroh ausgestreut, ein Brett vorgenagelt und so konnten wir dann sehr komfortabel schlafen. Ein Federkissen hatte auch die Flucht überstanden. Der Bruder meiner Mutter besorgte später ein Etagenbett aus Eisen und zimmerte ein Eckbrett mit Haken, so dass wir einen Schrankersatz hatten. Dann kam eine Kochhexe dazu, und unser Glück war vollkommen.
Wir wurden im April 1946 noch eingeschult. Meine Schwester Hannelore musste die erste Klasse noch einmal beginnen; sie war in Belgard bis zur Besetzung durch die Russen und Polen nur ein Vierteljahr zur Schule gegangen. Unsere 1. Klasse hatte 72 Schüler sehr unterschiedlichen Alters. Alles war damals chaotisch, aber wir lebten und hatten die Flucht gut überstanden.
1956 bekamen wir Auf dem großen Ruhm für uns Vier eine 3-Zimmer-Wohnung mit Ofenheizung und Badezimmer. Ich habe am ersten Tag über eine Stunde in der Badewanne gelegen. Ein Hochgenuss!
Seit 1946 sind wir nun in Reinbek, haben seit 1976 ein eigenes Haus und leben gern hier. Aber das, was unsere Eltern und Großeltern durchmachen mussten, wünsche in keinem Menschen. Hoffentlich bleibt uns der Frieden erhalten.