Im alten Reinbek zählten Grundstückgrenzen oft nicht viel, vor allem wenn es Nutztiere zu versorgen galt. Für neu Hinzugezogene konnte das zu komischen Szenen führen. Heidrun Tacke erzählt von einer Begebenheit aus den 1990er Jahren:
„Wir sind so genannte ‘Hinzugezogene’, also keine Siedler der ersten Stunde und auch keine Nachkommen von den Siedlern, die nach dem Krieg die Kleinsiedlungen mit ihren großen Gärten aufgebaut haben. Wir haben uns Ende der 1980er Jahre eine Siedlerstelle gekauft und sie nach unseren Bedürfnissen umgebaut. Da wir gute Nachbarschaft sehr schätzen und wir auch sehr herzlich aufgenommen wurden, waren uns auch die alten Gewohnheiten unserer Nachbarn recht. Wir haben unser Grundstück nicht eingezäunt, die offenen Grenzen zu den Nachbarn wurden beibehalten, denn schließlich ist es eine günstige Abkürzung, hinten über die Gärten zu gehen, wenn man den Nachbarn besuchen möchte. Und warum sollten wir ändern, was seit über 40 Jahren schon immer so war? Im Gegenzug drücken unsere Nachbarn auch mal ein Auge zu, wenn in unserem Garten z.B. der Löwenzahn in der Obstwiese bis zur Fruchtreife wächst und diese Früchte über die offenen Grenzen wehen.
Wir sind beide berufstätig und hatten unser Büro damals in Wentorf, waren also tagsüber in der Regel nicht zu Hause. Doch irgendwann in den 1990er Jahren an einem schönen Frühlingstag nahm ich mir meinen Hausfrauentag. Ich war gerade hinten im Garten bei unseren Hühnern, die in einem Teil unseres Obstgartens zu Hause sind, als ich einen alten Mann aus unserer Siedlung mit dem Fahrrad auf unser Grundstück fahren sah. Er stellte das Fahrrad ab, nahm eine Plastiktüte und ein Messer vom Gepäckträger und kam schnurstracks ohne zu zögern bis hinten in die Obstwiese. Ich war arg verwundert, es sah so aus, als ob er nicht das erste Mal diesen Weg genommen hatte. Dennoch hatte ich etwas Sorgen, denn im Obstgarten hatte der Maulwurf einige Hügel hinterlassen und wenn so ein alter Mann darüber fällt, kann das böse Folgen haben. Aber auch die Maulwurfhügel schien er schon zu kennen.
Er stutzte, als er mich endlich am Hühnerstall stehen sah. ‘Sie sind sonst um diese Zeit nie zu Hause’, hörte ich ihn erschrocken und verlegen, aber auch etwas vorwurfsvoll sagen. Ich rechtfertigte mich überrascht: ‘Ich habe heute meinen freien Tag’ (und schließlich ist das mein Garten!). Das habe ich ihm aber nicht gesagt. Stattdessen fragte ich ihn freundlich: ‘Was machen Sie denn hier?’ – ‘Ach, Sie haben hier so schönen Löwenzahn und den schneide ich mir für meine Kaninchen. Ich habe insgesamt 18 Junge und die haben sehr viel Hunger, wissen Sie. Was ich in meinem Garten an Futter habe, reicht einfach nicht aus und da bin ich durch die Siedlung gegangen und habe bei Ihnen den Löwenzahn entdeckt.’
Und schon fing der alte Mann an sich zu bücken und Löwenzahn zu schneiden. Na gut, dachte ich, den Löwenzahn kann er ja gerne haben, aber könnte ich nicht auch noch einen Vorteil daraus ziehen, kann man hier nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen? ‘Warten Sie mal, ich hole Ihnen etwas’, sagte ich zu dem alten Siedler und lief rasch zurück zum Haus, um aus dem Schuppen den Ausstecher zu holen. Denn wenn er den Löwenzahn gerne haben möchte und sich sowieso bückt, um ihn zu schneiden, kann er ihn auch gleich ausstechen, dachte ich, dann bin ich ihn los und meine Nachbarn werden es mir danken. Ganz begeistert über meine Idee kam ich mit dem Ausstecher zurück und sagte: ‘Hiermit können Sie den Löwenzahn ganz einfach ausstechen, das ist doch besser, als ihn mit dem Messer zu schneiden!’ – ‘Oh nein’, sagte der alte Mann, ‘das geht nicht. Der Löwenzahn soll doch nachwachsen, ich will doch wiederkommen, um Futter für meine Kaninchen zu holen!’
Ich ließ ihn. Nachmittags traf ich meine Nachbarin im Garten und sagte ihr: ‘Du, Herr X züchtet Löwenzahn in unserem Garten’ und erzählte ihr die Geschichte. Wir haben beide herzlich darüber gelacht! In den nächsten Wochen habe ich mich über neue Schnittstellen in der Obstwiese dann auch nicht mehr gewundert – es waren ja schließlich viele Kaninchen!“