In vier Teilen erzählt Ursula Dietrichs von Jugenderinnerungen aus Hamburg und aus England. Im ersten Teil geht es um Schulunterricht und erste Kontakte zu englischer Kunst und Kultur:
„Nach Schließung der Schulen im Sommer 1943 hatte ich eine zweijährige Ausbildung an der Lehrerinnen-Bildungsanstalt in Hamburg-Eimsbüttel absolviert und am 1.3.1945 mein Abschlusszeugnis erhalten. Das war nun nichts mehr wert. So entschloss ich mich, an meine alte Schule zurückzukehren und regulär das Abitur nachzuholen, um später Pädagogik studieren zu können.
Die letzten beiden Kriegsjahre waren insofern besonders stressig gewesen, weil man Tag und Nacht mit Fliegeralarm rechnen musste. Wir hatten unserem Vater versprechen müssen, bevor er als Reserveoffizier noch eingezogen worden war, möglichst nicht in fremde Luftschutzkeller zu flüchten, sondern entweder nach Hause oder zur Schule zu rennen. Wie viele Kilometer bin ich in diesen Monaten durch die Stadt gehastet! Allein der Gedanke, sich mit Notgepäck unter die angstvolle, schiebende Menschenmasse zu mischen, die vor dem Bunker wartete, versetzte mich in eine gewisse Panik. Mir ging es gesundheitlich nicht besonders gut: Ich litt aufgrund eines Herzfehlers an Atemnot und erschreckte die Familie immer wieder durch Ohnmachtsanfälle. Meine nervenstärkeren Schwestern notierten das kurz und bündig: ‘O, Gott, die schon wieder, wie peinlich!’
Jetzt begann eine ruhigere Schulzeit, denn in dem eiskalten Winter 1945/46 wurde nur der Abiturklasse Unterricht erteilt, weil das große Schulgebäude nicht beheizt werden konnte. Im Erdgeschoss stand in einem einzigen Klassenraum ein alter, rostiger Bullerofen, um den wir zwölf Schülerinnen hockten, in dicken Mänteln, eingehüllt in eine Wolldecke. Jeden Tag mussten wir ein Brikett mitbringen, aber wohlige Wärme kam selten zustande. Ich hatte das Glück, meine ehemalige Klassenlehrerin Frl. Dr. Schoenfeld wieder in Deutsch und Englisch zu bekommen. Sie war zwar reichlich streng, aber wir lernten viel bei ihr. Natürlich wurden Goethe und Schiller abgehandelt, aber wir lernten auch Thomas Manns Novellen kennen, interpretierten u. a. Lyriker wie Georg Trakl, der uns gefühlsseligen Mädchen sehr entgegen kam! Statt des Nibelungenliedes lasen wir die Odyssee, im Englischunterricht begeisterten uns die short stories von Hemingway und für eine Semesterarbeit durften wir uns – schon halbwegs emanzipiert – eine historische oder literarische Frauengestalt aussuchen. Dagegen war der Spanischunterricht bei dem langweiligen Herrn Müller antiquiert. Er hatte Kriegszeit und Entnazifizierung erfolgreicher überstanden als seine ehemaligen männlichen Kollegen.
Wir hatten zwei tolle Kunst- und Musiklehrerinnen. Frl. Bünemann studierte mit uns natürlich Chor- und Kunstlieder ein, aber sie lehrte auch Musikgeschichte. Wir hörten das erste Mal neue Töne: Hindemith, Schönberg und Plattenauszüge von Benjamin Brittens Oper ‘Peter Grimes’ – welch unbekannte Klangwelt tat sich da auf! Im British Broadcasting-Sender faszinierte uns Jazz, Soul, Gospel, – ‘Negermusik’, wie nicht nur mein Vater meinte.
Geliebt und bewundert von allen Mädchen wurde unsere Kunsterzieherin Frl. Maack. Sie brachte uns nicht nur die verschiedensten Maltechniken bei, sondern schärfte unsere Augen bei Kunstbetrachtungen in der Kunsthalle in der Galerie der Alten Meister oder im Ph.O. Runge-Saal. Aber größere Bedeutung für die meisten von uns hatte die erste Begegnung mit moderner Kunst in der Galerie Bock. Emil Nolde, Franz Marc, Max Beckmann – nicht einmal die Namen hatten wir bisher gehört. Ich war so überwältigt, dass ich beschloss, im Nebenfach Kunstgeschichte zu studieren, wenn es mit der Immatrikulation klappen würde!
Frl. Maack hatte eine Theater AG ins Leben gerufen, in der wir ein Tanz-Singspiel einstudierten, unter der Leitung ihrer Adoptivtochter Segrune, einer Lola-Rogge-Schülerin. Wie fühlten wir uns erhaben und poetisch bei der ‘modern dance performance’! Ich tanzte die Anführerin einer Wolke und meine Schwester den charmanten Märchenprinzen. Als Hobby entdeckten wir auch den Jazzdance, und obwohl meine Eltern mich noch in die anerkannteste Tanzschule Hamburgs ‘Wendt’ schickten, gefielen mir insgesamt die klassischen Tänze nicht besonders und die Tanzpartner erst recht nicht! Den Abtanzball im Süllberg-Hotel fand ich nur langweilig und antiquiert.
Ich genoss wieder den Schulalltag und freundete mich mit den meisten Klassenkameradinnen an. Wir hatten alle unsere besondere Vergangenheit: Kinderlandverschickung, Flucht, Verfolgung: wie bei der rothaarigen Oda B., die als Halbjüdin im Untergrund in Berlin gelebt hatte. Schon bald entwickelte sie sich zur lustigsten, selbstbewusstesten Freundin.
Im Sport waren z. B. Basketball, Schwimmen und – wie immer – Leichtathletik sehr beliebt. Aber wir gingen auch besonders gern ins Kino, in den UFA-Palast. Da liefen berühmte englische Filme, unsynchronisiert, und noch heute habe ich die sonore Stimme von James Mason im Ohr, sehe ich in Gedanken Margaret Lockwood durch den ‘Black Forest’ reiten.
So langsam regte sich das Theaterleben in der Stadt. Das Schauspielhaus war ‘out of bounds’ [=nicht zugänglich], wie auch das ehemalige berühmte Varieté im Café Vaterland. Die ersten Theateraufführungen spielten in Ausweichstätten, z.B. in Schulen oder im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof. Unvergesslich und beeindruckend war für uns Theaterneulinge das Stück: „Mord im Dom“, die Ermordung von Thomas Beckett, gespielt in der St. Johanniskirche in Harvestehude, oder Bert Brechts ‘Der kaukasische Kreidekreis’.
Man war sehr innovativ auf kulturellem Gebiet und für uns junge, unbedarfte Menschen war alles Geschehen auf den Bühnen anregend, aufregend! Wir gaben uns dem Neuen, Aktuellen bedingungslos hin – sicherlich zum Erstaunen unserer Elterngeneration. Mein Vater erlaubte uns zwar, dass wir den neu gegründeten HIC [Hamburg International Club] am Gänsemarkt besuchten. Aber mit Argwohn (und auch erhobenem Zeigefinger!) beobachtete er unsere Verwandlung in modisch interessierte, feierwütige (,etwas verspätete) Teenager, die immer in Clique ‘neue events’ aufsuchten. Er schüttelte nur den Kopf, wenn wir ihm vom ‘5 o’clock tea’ erzählten oder den ‘Honkey-Donkey-Tanz’ aufführten. Ganz zu schweigen von späteren Besuchen von Konzerten mit Count Basie, Dizzy Gillespie oder Ella Fitzgerald! Aber meine tolerante Mutter unterstützte uns Jüngere und hielt dem Haushaltsvorstand entgegen: ‘Nun lass sie doch endlich ihre Jugend genießen!’“