Zerstörung, Hunger, menschliche Verluste: Die Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft in das zerstörte Deutschland war nicht leicht. Wulfried Jedicke erzählt:
„Am 20. April 1945 wurde ich – von Bord an Land abkommandierter Marineinfanterist – in der Lüneburger Heide von englischen Soldaten gefangen genommen. Nach einigen Tagen landete ich mit zahlreichen Kameraden in einem Gefangenenlager in Belgien. Auf der Hinfahrt in geschlossenen Güterwaggons haben holländische Bahnanlieger mit Steinen geworfen und uns mit der Handbewegung des Halsabschneidens ihre Stimmung verdeutlicht. Bei der Heimfahrt – glücklicherweise bereits im August des gleichen Jahres – haben die Holländer uns fröhlich zugewunken und uns bei langsamer Fahrt Äpfel und Birnen zugeworfen, wobei einige der letzten noch intakten Scheiben der alten Personenzugwagen zu Bruch gingen.
Bei Nacht sind wir ohne Halt durch den Hamburger Hauptbahnhof nach Bad Segeberg in das Entlassungslager gefahren. Nach Empfang der Papiere machte sich mit mir ein kleiner Trupp am nächsten Tag auf den Fußmarsch zum 19 km entfernten Bad Oldesloe, von wo es eine Bahnverbindung nach Hamburg geben sollte. Etwa auf der Hälfte des Weges begegneten wir einem Ostpreußen, der mit seinem Panje-Wagengespann ebenfalls nach Oldesloe wollte und uns aufsitzen ließ.
Ich wollte zu Fuß die vier bis fünf Kilometer weiter nach Rümpel, einem inzwischen nach Bad Oldesloe eingemeindeten Bauerndorf. Von dort stammte meine Großmutter; in der ‘Dynastie’ Stoffers hatte sie fünf Geschwister und ich bin über die Vettern und Basen meiner Mutter mit den meisten Bauernfamilien des Dorfes näher oder entfernter verwandt. Diese Vorbemerkung lenkt auf ein weiteres bezeichnendes Ereignis meiner Heimkehr und diese Zeit.
Etwa tausend Meter hinter Bad Oldesloe näherte sich auf der sonst verkehrslosen Landstraße ein LKW, der auf mein Handzeichen auch sofort anhielt. Ich durfte einsteigen und wen wundert meine freudige Überraschung… am Lenker saß Hannes Scharrenberg, ein Onkel von mir. Er war mit einem der damals seltenen Lastwagen der bedeutenden südholsteinischen Mühle Ströh aus Oldesloe auf dem Weg nach Rümpel. Das Dorf bereits in Sicht sagte er mir: ‘Wundere dich nicht. Du wirst dort gleich rot-weiße Fahnen sehen. Das Dorf ist nämlich von den Besatzungsmächten zum Standort für die polnischen displaced persons auserkoren worden.’
Mir schwante nichts Gutes. Doch ich wurde auf dem Bauernhof von Tante und Onkel Schacht gut aufgenommen und erfuhr bzw. sah selbst, dass die zahlreichen vorwiegend polnischen Landarbeiter mit jeweils wenigen Personen auf die Familien des Dorfes verteilt worden waren. Sie fühlten sich als neue Herren, beanspruchten die schönsten Zimmer, ließen sich verpflegen, revangierten sich aber mit den Lebens- vor allem auch Genussmitteln aus den Zuteilungen der Besatzungsmacht. Sie hatten zudem den Bewohnern – inklusive den einquartierten Heimatvertriebenen – beengte bis gerade ausreichende Räume und Spielraum für die landwirtschaftlichen Aktivitäten gelassen.
Diese für die damaligen Verhältnisse relativ bemerkenswert erträgliche Situation hatte ihre Ursache in der guten, fast familiären Behandlung der polnischen Zwangsarbeiter auf den mir bekannten Rümpeler Bauernhöfen in den Jahren davor. Aus dieser Zeit stammten die Wortführer der polnischen Einquartierten, die das für mich anfangs überraschende Klima bestimmten.
Bald bin ich – von mehreren Tanten sogar noch mit Speck, Butter und Eiern versehen – nach Hamburg zurückgekehrt. Ich fand bei einer Tante in Flottbek ein Quartier, nachdem ich 1943 mein Elternhaus in Wandsbek durch Bombenvolltreffer verloren hatte.
Bei allen Zerstörungen und menschlichen Verlusten stand der Wille zum Wiederaufbau in der Bevölkerung im Vordergrund. Daher sollte ich mich nach der Anmeldung auch zum Steineklopfen melden, obwohl ich ein Studium anstrebte und einen Bürojob in Aussicht hatte. Für das Attest ‘nur büroverwendungsfähig’ musste ich zum Arzt, dem ich von meinen Nierenproblemen berichtete, die ich mir zu Beginn der Gefangenschaft bei Tag und Nacht auf freier Wiese zugezogen hatte. Er sagte mir nach kurzer Untersuchung: ‘Ich wünsche Ihnen nie eine richtige Nierenentzündung’ und… unterschrieb das Attest.
Mein Nebenjob zum Studium auf dem Friedhofsbüro in Wandsbek/Tonndorf bestand u. a. darin, die teilweise verbrannte Gräberkartei zu erneuern und zu aktualisieren. Dafür musste ich tageweise die Grabstätten ablaufen und die Daten von den Steinen oder Platten ablesen. Zahlreiche waren so mit Büschen und (Dornen-) Gestrüpp zugewachsen, dass man sich erst wie im Dschungel anpirschen musste. Für diese stundenweise Tätigkeit bekam ich im Monat 80 Reichsmark, die ausreichten, um auf dem Schwarzmarkt Brot, Fleischmarken o. ä. zu erstehen. Nach Rümpel bin ich in den nächsten Monaten und Jahren häufiger gekommen: als neue zweite Heimat, aber auch wegen der Hilfe der Verwandten bei der noch bis zur Währungsreform 1948 andauernden schlechten Lebensmittelversorgung in der Großstadt.
Eine weitere für diese Zeit bezeichnende Erinnerung sei noch kurz geschildert: Mit einem Sack Kartoffeln bin ich aus dem Zug von Bad Oldesloe zum Hauptbahnhof bereits am Hasselbrook Bahnhof aus- und treppauf/treppab in die S-Bahn umgestiegen, um auf dem Hauptbahnhof den Kontrollen der vom Lande kommenden Reisenden mit ‘Hamstergut’ zu entgehen.
Übrigens: Meine vor der Gefangenschaft bei Verwandten ausgelagerte, blaue Marineoffiziersuniform machte mich – nach Entfernung aller Aufnäher – bei besonderen Gelegenheiten, wie z. B. Theater- und Konzertbesuch zu einem der bestangezogenen Männer.“