Wie erlebte man das Kriegsende in Reinbek? Wie sah dort der Alltag im Ausnahmezustand aus? Helga Niemeier hat es erlebt und erzählt aus einer Zeit der Ungewissheit:
„Keiner sagt es, aber alle wissen es, der Krieg neigt sich dem Ende zu. Es herrscht eine Stimmung voller Sorge und Angst. Ende Februar ruft mein ältester Bruder noch mal aus Königsberg an, das er bis zum Ende mit verteidigen muss. Das war das letzte Lebenszeichen, was wir von ihm bekommen hatten, bis dann erst 1946 uns eine Karte aus russischer Gefangenschaft erreichte.
Längst wissen wir, dass der Krieg verloren ist, dass im Westen die Alliierten bereits auf deutschen Boden und vor allem die Russen schon in Ostpreußen eingedrungen sind. Die Flüchtlinge aus dem Osten kommen täglich an, erschöpft und verhärmt. Wir müssen oft zum Bahnhof, ihnen helfen, sie zu Unterkünften bringen. Wir Einheimischen müssen zusammenrücken, alle leben nun auf engstem Raum. Ich bekomme eines Tages die Aufgabe, mehrere Kinder, die ihre Eltern unterwegs verloren haben, nach Oldesloe zum Roten Kreuz zu bringen. Es ist erschütternd, wie still und ernst diese Kinder sind, doch keines weint.
Ich erinnere, dass ich mit meiner Freundin schon Anfang des Jahres mutig wurde und unsere Lehrerin nicht mehr mit dem Deutschen Gruß [= Hitlergruß] grüßte, sondern kess ‘guten Tag’ sagte, was dann allerdings zur Ermahnung führte, denn diese Lehrerin war immer noch eine Anhängerin Hitlers. Ich hatte aber bereits schon länger den Schwarzsender [= einen von den Allierten betriebenen Radiosender] unter einer Wolldecke gehört und kannte so etwas mehr die Lage.
Unser Haus in der Lindenstraße, das wir mit 2 Familien bewohnt hatten, ist nun auch voll belegt bis in den kleinsten Raum mit zugewiesenen Flüchtlingen und aufgenommenen Verwandten. Aber es herrscht Eintracht und Verbundenheit, denn Not, Sorge und Angst beherrschen und vereinen alle.
Unsere Schulen wurden ab Februar oder März (ich weiß die Zeit nicht mehr genau) in Lazarette umgewandelt und ich bin dort als Schwesternhelferin im Einsatz, nachdem wir vorher einen Kurzlehrgang beim Roten Kreuz mitgemacht haben. Im Lazarett treffen wir jungen 17-jährigen Mädchen nun auf das Elend der verwundeten Soldaten. Ich muss einen völlig verzweifelten 19-jährigen Österreicher betreuen, ihn versuchen aufzurichten, denn er hat beide Unterschenkel verloren. Es ist überhaupt für uns nicht ganz einfach, doch die katholischen Schwestern, die mit aus dem Lazarett im Osten kamen, nehmen sich unserer verständnisvoll an.
Sonst wird die Zeit mit Anstehen um die wenigen Lebensmittel verbracht. Wir haben unsere festen Geschäfte, wo wir uns haben eintragen müssen. So kaufen wir Milch und Quark bei Christiansen, Gemüse bei Bützow, Fleisch bei Troll und Nährmittel bei Heick. Die Gänge durch Reinbeks Straßen sind manches Mal auch gefährlich, da die Tiefflieger sich auf die Menschen stürzen, wir uns dann in Hecken oder auf den Boden werfen. Alle warten nur noch auf das Ende dieses schrecklichen Krieges. Deutsches Militär fährt durch unsere Straßen, auf den Kühlern der Autos liegen Soldaten und beobachten den Himmel, um sich so vor den Tieffliegern zu schützen.
Ende April taucht mein jüngerer Bruder plötzlich bei uns auf. Er wird von Halte nach Schleswig-Holstein verlegt und kann es möglich machen, uns kurz zu besuchen, muss aber dann doch schnell zurück zu den anderen, um dem nächsten Vorgesetzten, der ihm die Erlaubnis gab, keine Schwierigkeiten zu bereiten. Aber wir wissen nun wenigstens, dass er nicht weit weg ist und vor allem aus den östlichen Gebieten fort. Es kommen nur noch wenige Nachrichten von unseren Frontsoldaten. Alle bangen um ihre Söhne, Männer, Brüder.
Irgendwann – es war wohl schon Anfang Mai – hören wir, dass Verhandlungen um die Anerkennung Reinbeks als Lazarettstadt laufen. Währenddessen vernehmen wir bereits sehr deutlich in der Ferne Artilleriefeuer. Wir gehen jetzt nur noch halb angekleidet ins Bett. Dann, eines Nachts in den ersten Maitagen, schlagen in den Nachbarsgärten Artilleriegeschosse ein. Ich bin in Sekundenschnelle aus dem Bett, raffe die restliche Kleidung und rase mit meinen Eltern und den anderen Hausbewohnern in den Keller. Aber der Spuk ist schnell vorbei, drei Granaten fallen in unsere Ecke in der Lindenstraße in die Gärten und eine oder zwei gehen bei der Sachsenwaldschule runter. Die ist jetzt Lazarett.
Am nächsten Tag hören wir, dass die Verhandlungen abgeschlossen sind, und dann – ich weiß nicht mehr wann genau – hören wir Panzer auf der Schönningstedter Straße rollen und Jubelgeschrei, das vor allem von den Gefangenen und Zwangsarbeitern sein soll. Eine erlösende, doch auch eigenartig benommene Stimmung erfasst uns. Ich gehe aber nicht hin, um das Schauspiel des Einzugs der Engländer anzusehen. Irgendwie gelangt dann Nachricht in die Häuser, wie es nun weitergeht, wie wir Lebensmittel erhalten. Polizeistunden sind angesagt, und wir müssen uns an ein völlig neues Straßenbild gewöhnen. Nun beherrschen die Engländer Reinbek. Ich weiß nicht, wann und wo ich den ersten Engländer sah. Jedenfalls wird das veränderte Bild uns bald vertraut. Ich arbeite noch weiter stundenweise im Lazarett, bekomme aber durch eine Ansteckung dort im Juni eine Gelbsucht, die gleichzeitig das Ende meiner Tätigkeit bedeutet.
Unsere Ernährung wird immer problematischer. Wir ergattern Zuckerrüben und auch eine Presse, sodass wir Sirup machen können. Wir sammeln Körner auf den abgeernteten Feldern, betteln um Steckrüben bei den Bauern. Meine Mutter und ich fahren nach Vierlanden, um Äpfel zu bekommen. Es gelingt gegen Tausch, einen Rucksack voll zu bekommen. Doch als wir am Bahnhof ankommen, steht eine englische Kontrolle da und wir müssen alle die Taschen und Rucksäcke auskippen. Ach wie hat da meine gute Mutter geweint!
Ein anderes Mal bin ich mit einer Freundin auf ‘Hamstertour’. Die Züge sind überfüllt, wir sitzen auf den Puffern der Bummelzüge. Außer einer warmen Mahlzeit bei einem Bauern haben wir nur ein paar Kartoffeln erhalten. Als wir zur Heimfahrt wegen Überfüllung des Zuges wieder auf die Puffer klettern wollen, kommen plötzlich englische Soldaten und schießen, sodass wir uns in null Komma nichts in ein Dienstabteil quetschen.
Es ist ein wunderschöner Sommer und mehr und mehr fühlen wir uns befreit von alter Angst, auch wenn die Versorgung immer problematischer wird. Wir laufen in Holzschuhen, was nicht immer bequem ist. Die Kleidung wird vielfach geändert oder geflickt und aus Altem wird Neues gemacht.
Irgendwann im Juli oder August hören wir plötzlich unseren Familienpfiff und stürzen aus dem Haus: mein jüngerer Bruder ist entlassen und heimgekommen. Er ist in guter Verfassung und wir sind glücklich. Doch die große Sorge um unseren ältesten Bruder bleibt. Meine ältere Schwester, die zum Kriegsende mit ihrem kleinen Sohn aus Berlin zu uns gekommen war, hatte bereits die Vermisstenmeldung ihres Mannes erhalten. Und er ist nie heimgekehrt.
Im Herbst dann kommen plötzlich englische Offiziere zu uns und verkünden uns die Beschlagnahme des Hauses. Wir müssen innerhalb von 24 Stunden ausziehen, dürfen nur das Nötigste mitnehmen. Das Haus wird für die UNRRA [= eine Organisation der Alliierten zum Wiederaufbau] benötigt. So werden wir alle verteilt. Unsere Familie kommt in drei verschiedene Häuser, aber alle in der Hamburger Straße. Die Eltern werden bei Fernandine Freifrau von Cramm einquartiert, meine Schwester, der kleine Sohn und ich bei Ohles und mein Bruder bei Jakobsens, wohin auch ich dann nach einiger Zeit ziehe.
Überall sind wir freundlich aufgenommen, doch die Familie trifft sich und lebt am meisten bei den Eltern, wo auch gegessen wird. Dort steht neben den Betten die Hexe, ein kleiner eiserner Ofen, der mit Gestrüpp oder Reisig beheizt wird und sehr schnell Hitze erzeugt, aber ebenso schnell erkaltet. Darauf wird gekocht, werden die Steckrübenscheiben oder die Kartoffelschalen, die mit etwas Mehl gebunden sind, in Lebertran oder Rizinusöl gebraten. Überhaupt sind Steckrüben unsere Hauptnahrungsmittel in dieser Zeit. Morgens auf die eine Scheibe Brot gibt es Steckrübenmus, mittags Steckrüben mit wenigen Kartoffeln (vielleicht in Wurstbrühe gekocht), abends die besagte Kost. Noch heute mag ich keine Steckrüben riechen oder essen. Im Frühjahr sammeln wir mit Handschuhen Brennnesseln und davon wird Spinat gekocht. Aus Amerika kommt Maismehl, daraus erhalten wir Maisbrot und Maisbrötchen, was auch alles keine Delikatesse ist, doch der große Hunger lässt keine Wahl und auch kein Gemäkel zu.
Anfang des Winters werden wir Schüler verpflichtet, zu arbeiten und müssen in der ehemaligen KuHa [=Kurbelwellenwerk Hamburg] in Glinde, in kalten Hallen Schrauben sortieren. Ich komme jedoch schnell davon frei, da meine Schwester, die schon als Dolmetscherin bei den Engländern arbeitet, mich für ihren kleinen Sohn benötigt.
In Reinbek läuft inzwischen die Entnazifizierung, viele kommen in Lager und man hört auch von einigen Selbstmorden, darunter ist unser sehr beliebter und sich stets für uns einsetzender Schulmeister Herr Rohloff, was uns alle sehr bewegt hat.
Wenn ich nicht irre, ist es im Frühjahr 1946 als der Schulunterricht wieder aufgenommen wird, jetzt erstmal in der Dobbertinschen Villa. Mein Bruder muss nach dem ihm zuerkannten Notabitur anlässlich seiner Einberufung nun noch einmal das Abitur nachholen. So gehen wir morgens durch Klosterbergen zur Schule. Da ist mir noch in schrecklicher Erinnerung, dass wir eines Morgens zwischen Bäumen einen Toten liegen sehen, einen Mann, der noch die Pistole neben sich liegen hatte. Wer es war, habe ich nie erfahren. Das Entsetzen sitzt tief.
Irgendwann, als wir noch ausquartiert sind, trifft eine Karte unseres großen Bruders aus Russland ein. Es ist ein Festtag, und wir alle sind überglücklich, dass er lebt und es ihm scheinbar gut geht. Nach einer Odyssee durch verschiedene Gefangenenlager ist er nun am Schwarzen Meer in Saporoschje. Nun dürfen wir auch auf einer angefügten Karte ein Lebenszeichen schicken, später dürfen wir sogar mehr schreiben. Erst am 1. Januar 1950 kehrt unser Bruder heim. Nachdem er von der Schulbank weg zum Arbeitsdienst kam und dann gleich mit in den Polenfeldzug ziehen musste, hat er den ganzen Krieg an fast allen Fronten mitmachen müssen. Er ist 31 Jahre alt, als er heimkehrt, aber er ist relativ gesund und ohne eine Verwundung davongekommen. Der seelische Schaden hat sich erst später bemerkbar gemacht.
Es bleibt noch zu erwähnen, dass wir im Spätsommer 1946 wieder in unsere Wohnungen einziehen konnten, und sich das Leben trotz weiterer Knappheiten langsam zu normalisieren begannen.“