Die letzten Kriegstage im Mai 1945 aus der Sicht eines jungen Wehrmachtssoldaten aus Reinbek. Entstanden ist der Beitrag in einer Gesprächsrunde unter der Leitung von Otto-H. Harders. W. F. erzählt:
„Anfang 1945 Verlegung nach Sörup in Angeln südlich von Flensburg. Ende April Zusammenstellung von Einheiten als Panzerjagd-Kommandos. Kompanieführer ein Oberleutnant, Eliteleute mit Napola-Ausbildung [=Nationalpolitische Bildungsanstalt]. Die Ausbildung an der Panzerfaust einen Tag, Vorführung eines Schusses mit einer Übungsgranate durch die Vorgesetzten. Das war’s.
1. Mai.
Abmarsch vom Bahnhof feldmarschmäßig, bewaffnet mit Karabinern, Minen, wenigen Sturmgewehren, wenigen Panzerfäusten, Sturmgepäck, Wolldecken. Fahrt mit Viehtransportwagen, innen belegt mit Stroh, in Richtung Süden.
3. Mai.
Halt der Waggons und Befehl zum Aussteigen in Reinbek. In der Wohltorfer Straße war die Einquartierung vorgesehen für meinen Leutnant und mich, den Zugführer Hildebrecht. Da der Einsatzbefehl noch nicht vorlag, besuchte ich kurz meine Eltern in der Hamburger Straße. Dort prahlte mein Kompaniechef unter Vorzeigen der Antriebsmunition von Panzerfäusten, dass wir die Engländer hiermit zurückschlagen würden. Auf die Bemerkung meiner Mutter, dadurch würden doch sinnlos junge Männer noch fallen, bemerkte er, es würden dann viele Kameraden nachrücken, und die würden dann den Krieg doch noch gewinnen. Das war aber die Einstellung, muss man wissen!
Eine Entfernung von der Truppe war, obwohl es nahe gelegen hätte und ich selber schon seit dem Attentat auf Hitler nicht mehr an den Endsieg glaubte, ausgeschlossen. Wir wären dann sofort standrechtlich erschossen worden. Wir rückten nachmittags auf Aumühle vor, und zwar zu Fuß, auf welche Gemeinde die Engländer, von Geesthacht kommend, wo sie die Elbe überquert hatten, wie wir hörten, ebenfalls vorrückten. Kurz vor Aumühle kamen uns auf Lastwagen deutsche Truppen entgegen, von denen wir hörten, dass zwei oder drei englische Panzer von deutschen Einheiten abgeschossen waren. Die Soldaten riefen uns zu, wir sollten schleunigst verschwinden, denn die Engländer würden mit Panzern und Artillerieunterstützung vorrücken.
Unser Zug rückte in den westlichen Teil des Ortes vor, also Aumühle, wo sich englische Infanterie in den Gärten und Parks größerer Häuser verschanzt hatte. Obwohl wir das nicht sahen, hörten wir sie mit Maschinengewehren schießen und dann auch die Geschosse ganz in unserer Nähe durch die Luft pfeifen. Plötzlich erhielt ich einen Schlag gegen meine rechte Hüfte und dachte, ich sei getroffen. Als ich genauer hinsah, hatte lediglich ein Rohr des neben mir liegenden Panzerfaust‑Gerätes eine Delle.
Darauf nahm der neben mir liegende Zugführer die Panzerfaust, machte sie scharf und schoss sie in hohem Bogen über die vor uns liegenden Häuser ab, wo er die MG‑Stellung vermutete. Kurze Zeit später sahen wir, dass die Engländer mit Flammenwerfern auf ein in der Nähe stehendes Haus losgingen, in dem sie uns wohl vermuteten.
Das war der Augenblick, wo der Zugführer sagte, wir sollten uns vorsichtshalber absetzen. Wir zogen uns vorsichtig zurück und gingen über einen Steg an der Bille Richtung Ohe. Da ich als Einziger die Gegend persönlich kannte, übertrug man mir die Führung.
4. Mai
Über Ohe, Langelohe, Hoisdorf erreichten wir, nachdem wir die ganze Nacht marschiert waren, die B 75, auf der wir durch aus Hamburg abrückende Truppen aufgenommen und kurz vor Segeberg in einem Auffanglager abgesetzt wurden. Wir hörten unterwegs, dass Hamburg durch den Gauleiter Kaufmann kampflos den Engländern übergeben worden war. Wir übernachteten im Auffanglager, welches durch Vorpostenstellungen abgesichert war.
5. Mai.
Vormittags befahl mir Lt. Hillebrecht, ich solle mein Sturmgewehr mitnehmen, denn wir wollten die Vorpostenkette inspizieren. Als er mich dabei ansah, wusste ich sofort, was er wollte. Wir inspizierten die Vorpostenkette und gingen von dort aus gleich weiter feldein in südlicher Richtung Bad Oldesloe. Stets vermieden wir die großen Straßen, auf denen die feindlichen Truppen bereits nach Norden vorstießen.
Mein Sturmgewehr versenkte ich, nachdem ich die Munition entfernt hatte, in einem Straßengraben, während der Leutnant seine Pistole bei sich behielt. Wir marschierten auf Feldwegen den ganzen Tag Richtung Südwesten ohne Verpflegung. Gegen Abend erreichten wir einen kleinen Bauernhof in der Nähe von Ahrensburg. Die Leute wollten uns zunächst aus Angst nicht aufnehmen. Als der Leutnant dann seine Pistole auf den Tisch legte, was sicher nicht die feine Art war, ging es sehr viel leichter, zumal, als ich erzählte, dass wir auf der Flucht nach meinem Heimatort Reinbek seien. Wir übernachteten in der Küche und bekamen zu essen.
6. Mai
Am nächsten Morgen gab man uns sogar Ziviljacken und Fahrräder, auf denen wir dann wieder ausschließlich Feldwege benutzten und in Richtung Reinbek weiterfuhren. Wir kamen hier kurz vor Mittag an und man kann sich die Freude vorstellen, mit der wir zu Hause aufgenommen wurden.
Um Zeit zu gewinnen, richteten wir in unserem Haus ein Mansardenzimmer ein, das mit einem Kleiderschrank davor unkenntlich gemacht wurde. So war die Tür des Zimmers vollständig verdeckt und bei einer Kontrolle nicht zu sehen, dass hinter dem Schrank noch ein Zimmer war. Man muss sich vorstellen, wir waren ja am 6. Mai zu Hause, nicht am 8. Mai. Hätte man uns geschnappt, man hätte uns an die Wand gestellt.
Erst einige Wochen später stellte mir ein Stabsarzt eine Bescheinigung aus, aus der ersichtlich war, dass ich das Kriegsende im Krankenhaus St. Adolfstift überlebt hätte. Offiziell entlassen wurde ich durch eine englische Militärbehörde erst am 14.1.1946. Bei der Gelegenheit wurde ich auch offiziell entlaust.
Mein Leutnant hielt sich noch einige Wochen bei uns auf und versuchte dann, als Pole verkleidet, mit einem Fahrrad über die Elbe nach Hildesheim in seine Heimat zu kommen. Er wurde jedoch an der Elbe festgenommen und musste noch einige Monate als Minensucher die Nordseeküste freimachen. Er hat das Himmelfahrtskommando überlebt und ist wieder in die Bäckerei seines Vaters eingetreten.“