Mehr als ein Jahr war vergangen, nachdem Hildegard H. mit ihrer Mutter und einigen Geschwistern die Stettiner Heimat verlassen hatte. Über Rostock, Lüneburg und Sörup verschlug es sie schließlich nach Kolding in Dänemark. Wie sie von dort aus nach Reinbek kam, erzählt sie im dritten und letzten Teil ihrer Geschichte. Gisela Hackbarth hat wieder mitgeschrieben.
„Gegen Ende Oktober 1946 erhielt meine Mutter für sich und uns beiden jüngeren Kindern eine Ausreiseerlaubnis nach Reinbek. Zunächst brachte uns ein Zug an die dänisch-deutsche Grenze, dann ging es auf einem Lastwagen weiter nach Pelzerhaken. Dort kamen wir in ein Internierungslager und unsere Mutter musste zur Entnazifizierung in ein Büro der britischen Militärregierung. Mein Bruder und ich hatten große Angst, wussten wir doch nicht, was das bedeutete und was mit ihr passieren würde. Wir haben um sie gebetet. Endlich kam sie zurück und uns fiel ein Stein vom Herzen. Wir machten uns dann auf den Weg nach Reinbek. Wie wir dorthin kamen, erinnere ich nicht mehr.
Endlich in Reinbek vereint
Schließlich erreichten wir Reinbek. Hier wartete schon unser Vater auf uns. Ihm war die Flucht nach Reinbek noch im Mai 1945 gelungen. Im Hause unseres Onkels trafen wir noch weitere Verwandte aus Stettin an. Aber wo sollten wir wohnen? Das Haus war schon überbelegt und unser Vater lebte ja auch nur in einer Art Verschlag bei einem Bauern. Die Gemeindeverwaltung wies uns ein Zimmer in einem großen Haus in der Kirchenallee zu. Das Zimmer war geräumig und jeder hatte ein eigenes Bett. Das war uns sehr wichtig.
Als meine ältere Schwester ein paar Wochen später aus dem Lager in Kolding entlassen wurde, kam sie natürlich zu uns. Wir beide schliefen erst einmal in einem Bett. Dann erhielt unsere fünfköpfige Familie zwei Zimmerchen in der Bahnhofstraße. Jedes Zimmer war Wohn- und Schlafzimmer zugleich und in einem Zimmer wurde auch gekocht.
In Ermangelung eines Badezimmers gingen meine Schwester und ich häufig nach der Arbeit in eine öffentliche Badeanstalt am Hauptbahnhof. Dort gab es Badekabinen mit schönen großen Badewannen. Das warme Bad haben wir immer sehr genossen. Zu Hause hatten wir nur eine Zinkwanne. Für meinen Bruder reichte sie. Wenn wir Schwestern mal ins Kino gingen, nutzten die Eltern die Zeit, um selbst ein Bad in der Wanne zu nehmen.
Als im März 1949 der Mann meiner Schwester aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, musste auch er bei uns unterkommen. Unsere damaligen Vermieter waren ganz liebe und sehr hilfsbereite Menschen. Sie waren selbst Flüchtlinge, aber sie halfen, wo sie nur konnten. Sie schafften es, ein winziges Bodenkämmerchen für das junge Ehepaar freizumachen, bis es ein anderes, größeres Zimmer fand. Im Dezember 1949 kehrte dann auch mein älterer Bruder aus russischer Gefangenschaft zu uns zurück. Wir waren Gott dankbar, waren wir doch nach mehr als vier Jahren endlich in Reinbek wieder vereint.
Ein neues Zuhause
Ich war jetzt 18 Jahre alt und machte mir um meine weitere Ausbildung Gedanken. Zunächst bekam ich das Angebot, bei einer Familie in der Bahnsenallee die Kinder zu hüten. Es war eine sehr schöne Aufgabe und ich erhielt auch Geld dafür. Ich brauchte meinen Eltern nichts davon abzugeben, obwohl sie selbst nicht viel hatten. Ich sparte das Geld und konnte für ein Jahr die Frauenfachschule in Bergedorf besuchen. Meine erste Stelle war die einer Schreibkraft auf Gut Schönau. Ich ging gern dorthin, auch wenn es ein langer Weg war. Ein Fahrrad besaß ich nicht. Im Winter, wenn es dunkel war und Schnee lag, fuhr ich mit dem Zug nach Wohltorf und ging von dort zu Fuß zum Gut.
Im Jahre 1949 suchte das Postscheckamt in Hamburg neue Mitarbeiter. Ich bewarb mich, obwohl ich als Abschlusszeugnis nur die Bestätigung über die Teilnahme am Unterricht der Berliner Jungen im Lager in Dänemark hatte. Es war die 6. Klasse, damals die letzte Klasse der Mittelschule. Ich erhielt die Anstellung beim Postscheckamt und fand, beruflich hatte ich es geschafft.
In Reinbek fühlte ich mich wohl. Viele unserer Verwandten waren auch hier und wir saßen oft in unseren engen Zimmern zusammen und tauschten Erlebnisse und Erfahrungen aus. Ich fand auch neue Freundinnen und hatte besonders viel Spaß am Singen im Kirchenchor. Manchmal besuchte ich mit meiner Schwester oder mit Freundinnen Tanzveranstaltungen im ‘Jägersbronnen’.
Etwa 1950 erhielten wir unsere erste eigene Wohnung in den neuerbauten Häusern an der Schönningstedter Straße. Da mein älterer Bruder inzwischen eine Lehrstelle und ein eigenes Zimmer gefunden hatte, zogen wir mit vier Personen in die neue Wohnung. Sie hatte zwar auch nur zwei Zimmer, aber auch eine kleine Küche und ein winziges Bad. Nun hatten wir endlich wieder ein Zuhause.“