Im letzten Teil ihrer Geschichte erzählt Ilse Gierhake aus ihrer Schulzeit und zieht ein Fazit: Wie waren die „dunklen Jahre“, wie verlief der „Weg aus der Dunkelheit“? Gisela Hackbarth hat mitgeschrieben:
„Am 11. November begann für uns wieder die Schule. Ich war in der 3. Klasse und wir hatten Unterricht im Schloss. Wir waren 80 Schülerinnen und Schüler und da wir nicht genug Stühle hatten, mussten vier Kinder auf der Fensterbank sitzen.
Ich kann mich auch erinnern, dass wir Bücher verbrennen mussten. Wir standen vor unserer Zentralheizung und warfen Bücher ins Feuer. Aber wann das war, weiß ich nicht mehr.
Es herrschte auch große Papiernot und wenn wir ein neues Heft brauchten, mussten wir uns melden. Frau Mommsen gab einmal auch mir und meiner Zwillingsschwester je ein neues Heft und wir waren selig. Nachmittags machten wir Schularbeiten und dachten: so wenig Papier! Wir holen uns noch ein Heft. Wir gehen also zu unserer Schulleiterin Frau Bauck, die neben der Schule wohnte. Sie gab jedem von uns ein Heft. Sie wusste ja nicht, dass wir morgens schon eins in der Schule bekommen hatten. Wir sind glücklich nach Hause gegangen. Am nächsten Morgen gab es dann die große Bescherung! Wir wurden beschimpft, als seien wir Schwerverbrecher. Und wir wollten doch nur noch ein Heft haben. Es kam oft vor, dass wir kein Papier mehr zum Schreiben hatten. Unsere Mutter hat uns dann beruhigt und gesagt, sie wolle mal gucken, ob sie noch ein paar leere Seiten finde. Sie hat uns dann aus ihren früheren Notizbüchern ein paar leere Seiten herausgetrennt. Unsere Mutter war so sehr beschäftigt, sie konnte sich kaum um uns kümmern.
Wir hatten chaotische Schulverhältnisse und keine Kraft zum Lernen. Wir waren so angespannt und so voller Angst und Sorgen. Unsere schlimme Schulsituation hat mich kürzlich wieder sehr beschäftigt, als die kleine, behütete Tochter meiner Freundin ins Gymnasium eingeschult wurde. Sie war voller freudiger Erwartungen und es gab so viele tolle Angebote für sie. Ich habe sie richtig beneidet, aber ich habe es ihr sehr gegönnt und ihr in einem Brief alles Gute gewünscht. Wir waren auch sehr behütet, aber es gab so viele Belastungen, Anstrengungen, Sorgen und Ängste.
Die Zeit der Arbeitslosigkeit war eine ganz schlimme Zeit für uns. Meine Eltern hatten fürchterliche Sorgen. Darum auch der Beschluss, eine Wäscherei aufzubauen. Und meine älteste Schwester, die vor einer Berufswahl stand, sollte Büglerin werden.
Das Jahr 1948 war dann voller wichtiger Ereignisse. Zunächst war endlich die Baugenehmigung da und die Wäscherei, die zukünftige Existenz, durfte weitergebaut werden. Vater war inzwischen auch entnazifiziert worden und erhielt nun seine Pensionierung. Das war besonders wichtig. Mit Vaters Pensionierung konnte Mutter die Arbeit in der Wäscherei aufgeben. Letztendlich kam in diesem Jahr auch die Währungsreform.
Jedenfalls waren diese drei Jahre der Arbeitslosigkeit unseres Vaters ein ganz großes Problem. Als dann die Pensionierung durchkam, konnten meine Eltern die Wäscherei nach Fertigstellung verpachten. Meine Mutter brauchte die Leitung nicht zu übernehmen.
Durch die Pension hatten meine Eltern ein regelmäßiges Einkommen, aber mit Abzügen, die Pension war gekürzt worden. Vater hätte auch nie wieder Arbeit bekommen und er musste ja beschäftigt werden. So hat er durch seiner Hände Arbeit etwas geschaffen. Bauen war sein Hobby und so fügte er der Wäscherei noch ein Wohnhaus hinzu. Und als der letzte Pächter auszog, baute Vater auch die Wäscherei zu Wohnraum um. Mit 84 Jahren hat er diese Arbeit noch machen können.
Die beiden Häuser waren ja eigentlich Folgen des Krieges. Aus der Not entstanden erhielten wir später ein Einkommen aus Verpachtung und Vermietung. Natürlich musste auch alles unterhalten und gepflegt werden und so waren Vaters Tage bis ins hohe Alter ausgefüllt. Das war eigentlich unser Weg aus der Dunkelheit.
Während des ganzen Krieges haben wir stark gelitten, auch nachts, wenn wir im Keller saßen. Und wie sollten wir lernen, wenn wir Nächte lang im Keller waren. Wir konnten ja nicht schlafen. Zum Glück hatte unser Keller zusätzliche Stützen, von Vater eingebaut, das gab uns ein Gefühl der Sicherheit. Es war eine schreckliche Zeit. Noch zwei Jahre später fragten wir nach einem nächtlichen Gewitter, ob Bomben gefallen seien. Noch heute erinnert mich ein nächtliches Feuerwerk an den Feuersturm.
Durch diese in der Kindheit durchlittenen Erlebnisse gibt es Begleiterscheinungen, die einen durchs Leben tragen. Durch diese Kindheitserlebnisse habe ich auch viele positive Erfahrungen gemacht, die mir jetzt zugute kommen. So empfinde ich eine große Dankbarkeit, dass wir alles haben – auch Freiheit -, alles kaufen können, Vater gesund nach Hause gekommen ist, meine Eltern die Zeit bewältigt haben. Als Vater dann so alt wurde, haben wir uns gesagt, das hat doch etwas zu bedeuten. Wir haben oft zusammengesessen und lange Gespräche geführt und hatten so allerlei Gedanken, richtig philosophiert haben wir.“