Ohe – ein verschlafenes Nest und kein Ziel der britischen Bomber? Weit gefehlt! Von Bombenangriffen auf Ohe und Umgebung erzählt Herrmann Becker:
„Im Sommer 1943 wurden die Kriegsereignisse für mich als Kind unangenehm spürbar. Wenn ich am Abend gerade fest eingeschlafen war, weckte mich die Sirene vom Munitionsdepot in den Oher Tannen mit ihrem im Wechsel an- und abschwellenden Heulton. Ich erschrak jedes Mal zutiefst, bekam große Ängste und fing fast immer zu weinen an, wenn mich meine Mutter aus dem Bett holte und mich dann in aller Eile anzog. Anschließend gingen wir schnellen Schritts in unseren ‘Bunker’, den mein Vater für die Familie im Garten gebaut hatte. Dieser ‘Bunker’ war eigentlich nicht mehr als ein Splitterschutz, wie mein Vater ihn aus den Schützengräben des Ersten Weltkrieges kannte. Auch alle unsere Nachbarn hatten sich in den Gärten ähnliche Unterstände gebaut. Diese bestanden aus einem etwa 1,5m x 3,0m großen Erdloch von ungefähr 1,8m Tiefe. Die Wände waren mit Brettern und Pfählen gegen Einsturzgefahr verschalt; die Abdeckung bestand aus Balken und Brettern, einer Strohschicht mit sehr viel Erdreich darüber. In das Innere gelangte man über eine holzbefestigte Erdstufentreppe. Als Sitzgelegenheiten dienten zwei schmale Bretter an den Längsseiten. In diesem Erdloch saßen wir, sprachen wenig und das im Flüsterton und horchten aufmerksam auf Geräusche, Flugzeuggebrumm und Bombendetonationen, die bei den Angriffen auf Hamburg zu hören waren. Ich selbst hatte damals größte Angst vor Luftminen, denn die sollten, wie ich es aus den Äußerungen der Erwachsenen aufgeschnappt hatte, mit ihrem Luftdruck die Häuser umpusten und den Menschen die Lunge zerreißen, schlimmer noch sollten allerdings Volltreffer sein.
Welche Schäden Bomben anrichten können, habe ich dann am 3. August 1943 in Ohe aus nächster Nähe selbst gesehen. Wie war es dazu gekommen? In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1943 hat die Royal Air Force mit 740 Bombern einen Großangriff auf Hamburg geflogen. Als der Verband Hamburg erreichte, geriet er unerwartet in ein strenges Gewitter und konnte wegen der herrschenden Turbulenzen seinen Zielauftrag nicht erfüllen. In dem Durcheinander entledigten sich die Flugzeuge ihrer Bombenlast an den Orten, wo sie sich gerade befanden, und so fielen auch einige Bomben auf Ohe. Eine große Bombe ging am Nordrand der heutigen Siedlung Finkenkoppel nieder und hinterließ einen mehrere Meter tiefen Trichter von gewaltigem Umfang, in dem sich Tage später Wasser sammelte. Obwohl die damals beiden letzten Häuser an der Großen Straße (Nr.81, 83) mehr als 100m entfernt waren, wurden sie an den Dächern und den Wänden beträchtlich beschädigt. Weil beim letzten Haus ein Teil der Giebelwand fehlte, hatte man vom Garten her den freien Blick auf den kupferfarbenen Badezimmerofen. Für weitere Aufregung sorgte eine Fliegerbombe, die als Blindgänger auf dem Sandweg Achtern Hoff (Hinter den Höfen Nr.16) lag. Als die Anwohner davon erfahren hatten, verließen sie fluchtartig ihre Häuser und brachten sich im Dorf bei Verwandten und Bekannten in Sicherheit. Wann würde der Zeitzünder die Bombe zur Explosion bringen? Kann sie noch von einem Sprengmeister entschärft werden? Mein Vater wusste darauf keine Antwort und zuckte wortlos mit den Schultern. Dann erzählte er uns aber, dass er sich in den Frühstunden den Blindgänger angesehen habe. ‚He sütt ut as´n Tunn un is so grot wie en dickes Swien!‘
Als wir bis in die Mittagsstunden mit unseren Verwandten, der Familie Pehmöller, in Ungewissheit ausgeharrt hatten, explodierte der Blindgänger mit einem lauten Knall. Wir liefen sofort bis zur Hausecke, um zu sehen, ob das Pehmöller’sche Bauernhaus die Explosion überstanden hatte. Es stand noch! Während die Erwachsenen sofort an den Ort des Geschehens eilten, blieb ich bei meiner Großmutter und ging um das Haus herum. Weil wir vorsichtshalber die Fenster geöffnet hatten, waren alle Fensterscheiben heil geblieben. Bei meinem Rundgang entdeckte ich vor der Hauswand einen handtellergroßen Bombensplitter, der beim Herabsausen die Traufe unseres Reetdaches gestreift hatte. Den legte ich nach genauer Betrachtung, wie das damals üblich war, in meine Splittersammlung, die nach Granat- und Bombensplittern geordnet war.
Am nächsten Tag sah ich mir gemeinsam mit meinem Spielkameraden Walter Pehmöller an, was bei der Blindgängerexplosion kaputt gegangen war. Auf dem Dach des Bauernhauses fehlten etliche Schieferplatten, vom Hühnerstall war nur ein Bretterhaufen übrig geblieben. Auch die Scheune hatte sehr gelitten. Die Seitenbretter waren größtenteils abgeklappt. Die Scheune stand nun ohne die seitlichen Wände da, das Dach hing schief auf den wenigen noch aufrecht stehenden Balken. Sie drohte einzustürzen. Das Nachbarhaus von Erna und Richard Stuhlmacher hatte die Giebelwand eingebüßt; sie war als Ganzes in den Vorgarten gekippt. An dem anschließend folgenden Haus von Schuster Rönner war das Dach betroffen. In der Gewitternacht sollen im Dorf auch Stabbrandbomben gefallen sein, worüber ich aber nichts weiß.
Es wird immer bedrohlicher
In den beiden letzten Kriegsjahren wurden die Fliegerangriffe immer häufiger und bedrohlicher, denn die Alliierten gingen vermehrt zu Tagesangriffen über. Wenn wir die großen Bomberverbände am Himmel sahen und versuchten, die Flugzeuge zu zählen, ahnten wir umso mehr, was sie möglicherweise angreifen könnten, denn in unserer Umgebung gab es zu der Zeit genug militärische Ziele: In Glinde gab es das Kurbelwellenwerk Hamburg (KuHa) und das Heereszeugamt der Wehrmacht. In den Oher Tannen lagerten an der Hauptschneise unter freiem Himmel große Mengen von Schiffsmunition, deren Granaten in Kartuschen wie Klobenholz am Wegesrand aufgestapelt waren. In den Tannen nördlich der Möllner Landstraße befand sich in einem umzäunten und streng bewachten Komplex das eigentliche Munitionsdepot mit etwa zehn bewachsenen Erdbunkern und einer gut getarnten Wache. Und am Sandweg zwischen Ohe und Neuschönningstedt (Am Sportplatz) lag auf nördlicher Seite, keine 500m vom Dorfrand entfernt, eine Flakstellung mit ihren Mannschaftsbaracken. Die Hauptausrüstung bestand aus einem riesigen Scheinwerfer und einem Horchgerät gleicher Größe, die beide durch einen hohen Ringwall geschützt waren. Flakgeschütze gab es hier nicht, die nächsten waren in Glinde. Weitere Scheinwerferstellungen befanden sich nach meiner Kenntnis damals auch nördlich von Prahlsdorf, an der Bismarcksäule, südlich des Autobahnparkplatzes Hahnenkoppel und in Nähe der Braaker Mühle. Der größte Tagesangriff, so wie wir ihn für unsere Umgebung befürchtet hatten, ereignete sich am 6. Oktober 1944 und galt dem Heereszeugamt in Glinde.
Um sich ein Bild vom Ausmaß dieses Angriffs zu machen, fuhr mein Vater am folgenden Sonntag mit mir auf dem Fahrrad nach Glinde. Bereits vor Erreichen des Heereszeugamtes mussten wir auf dem Oher Weg absteigen und um die ersten Bombentrichter herumgehen. Als wir dann näher herangekommen waren, sahen wir vom Zaun aus, dass die Bomben etliche Hallen getroffen hatten. Bei einigen waren die Dächer eingestürzt, bei anderen fehlten ganze Wände, so dass der Blick in das Halleninnere frei war und man sehen konnte, wie sich dicke Betonträger nach den Bombenexplosionen unter der schweren Deckenlast gekrümmt hatten oder gar total zusammengebrochen waren. Bombenlöcher gab es nicht nur auf dem Depotgelände, sondern auch auf der anderen Seite, auf der freien Ackerfläche zwischen Oher Weg und Gellhornpark, wo heute das Schulzentrum steht. Diese Fläche war mit unzähligen kleineren und größeren Bombenlöchern geradezu übersät. Zum ersten Mal wurde mir aus nächster Nähe deutlich, was gemeint war, wenn die Erwachsenen von einem ‘Bombenteppich’ redeten. Plötzlich erregten einige Jungen auf der gegenüberliegenden Feldseite unsere Aufmerksamkeit. Sie sammelten eifrig faustgroße Feldsteine auf und warfen diese gezielt in die Bombenlöcher. Ab und an sahen wir dann einen Funkenregen wie beim Feuerwerk emporsteigen. Schließlich wurden die Jungen durch Erwachsene von ihrem Tun abgebracht. Angeblich sollen sie mit den Steinen auf Brandbomben gezielt haben.“