Im vierten und letzten Teil ihrer Erinnerungen an die Schulzeit in den 1860er und 1870er Jahren erzählt Erna Martens vom Vogelschießen, das Spiel, Spaß und Tanz bis in die Nacht hinein bedeutete.
Von der Volksschule her kam Herr Scharnberg zu uns. Rechnen hat er uns beigebracht, und das tat uns gut! Mit „Ruck und Zuck“ ging es da – und so freundlich fest führte er dabei die Zucht, daß uns losen, zu Phantasien neigenden Mädchenköpfen gar keine Kraft und Zeit blieb zu kleinen Exkursionen innerhalb der Aufgaben! Achtung! Achtung! Schon mußte es da sein. Und in seinem deutschen Unterricht? Im Aufsatz? Wir vertrugen uns immer sehr gut! Wir verstanden seine einfache, klare Art, und er selbst freute sich sichtlich, wenn wir nicht nur richtig, sondern auch ganz geschickt zu sagen wußten, was er von uns wissen wollte – und manchmal gar noch ein bisschen mehr. – Herr Scharnberg war das Verbindungsglied zwischen der privaten höheren Töchterschule und der Volksschule in Reinbek. Aber so glücklich die Wahl dieses Mannes auch in dieser Sicht war – ich erinnere nicht, daß er auch nur ein einziges Mal Veranlassung gehabt hätte, als Schlichter oder Richter aufzutreten zwischen hüben und drüben – es gab eins – etwas Unwägbares -, was die beiden Schulen einander ganz nahebrachte: das Reinbeker Vogelschießen. Restlos von der Volksschule ging die Veranstaltung aus; aber „wir“ gehörten unbedingt dazu. Laßt es mich noch einmal erleben, es war so schön! Lange Wochen vorher gingen die großen Jungen in Reinbek und seiner Umgebung von Haus zu Haus, um klingende Beihilfen für das Vogelschießen zu erbitten. Das Geben war selbstverständlich bei allen Leuten! Viel früher aber hatten die Jungen eine andere „Aufgabe“ erledigt, die ganz ihrem persönlichen Geschmack überlassen war: sie hatten sich ein Mädchen – ihr Mädchen – für dieses Fest erwählt! Das war nicht nur eine innere Angelegenheit zwischen zweien, sondern das Mädchen hatte mit dieser Zusage eine Verpflichtung übernommen: sie hatte ihrem „Ritter“ die Schärpe zu schenken, die er beim Feste trug: ein Seidenband von kornblumenartiger Farbe – nicht zu kurz, nicht zu schmal. Das war der Stolz der Jungen – und welches Mädchen hätte dem Wunsche ihres Jungen nicht gar zu gern genügt! Wenn aber nun meine Mutter mehrere Töchter hatte, und wenn die Tänzer schon sehr groß waren: dann mag die Ehrengabe wohl in manchem Hause eine Sorge gewesen sein; denn abzuhandeln gab’s da nichts: Seide – lang – breit! Das waren feste Bedingungen. Die Mädchen trugen weiße Waschkleidchen und im Haar einen Kranz von bunten Blumen. Das scheint alles so absolut einfach – und wieviel Kopfzerbrechen und Herzklopfen haben doch schon diese Vorbereitungen seit vielen Wochen mit sich gebracht bei alt und jung! Der Tag kam. Am frühen Nachmittag: Sammeln auf dem Spielplatz der Volksschule. Aufstellung zu zweien. Die Knaben voran, dann die Mädchen. Einer Musikkapelle folgend, marschierten einige hundert selig dreinschmunzelnde Kinder durch Reinbek, überall freundlich von der Bevölkerung begrüßt. Zum Schluß ging’s in die Loddenallee, und hier wurde dann der erste Teil der Festfreuden ausgekostet. Nach einem großen hölzernen Vogel wurde mit der Armbrust geschossen. Großer Jubel erscholl jedesmal, wenn ein Bein, ein Flügel herabstürzte – höchste Spannung, wenn das Glied sich nur gelöst hatte, ohne herabzufallen! Selbst die Mädchen fühlten sich stark angezogen von den Aufregungen auf dem Schießplatz ihrer Freunde – und doch waren sie nur mit halbem Herzen dabei; denn in nicht weiter Entfernung lag ihr Kampfplatz, da gab es „Topfschlagen“! Kam man denn noch immer nicht dran? Endlich! Mutig ergriff man die Keule. Wie leicht die Aufgabe war! Da mußte man doch treffen – nur wenige Schritte waren’s bis zum Ziel! Sicher – da wurde die Binde vor die Augen gelegt! Ach ja, so, hm, hm! Ganz so einfach war’s wohl doch nicht – es war auch so sehr dunkel! Aber nicht zeigen, daß man unsicher ist – mutig drauf los! Zehn Schritt – jetzt – der Stock fällt lautlos ins Gras! Alles lacht! Also doch Pech! Die nächste will schneller sein, sich gar nicht besonnen. Das ist sicher besser – los – auf halbem Wege – bums – weit vorbei! Wieder lautes Lachen! Manche noch muß den schweren Weg gehen, und eigentlich tut’s jede gern! Denn der Sieg winkt – der Preis! Und hat eine es geschafft mit etwas Geschick und ein wenig Glück – dann gibt’s großen Jubel von allen Seiten. Stundenlang hält die Aufregung beim Spiel an; da erklingt ein lauter Tusch! Die Knaben haben ihren Vogel heruntergeschossen! Es lebe der König! Auch die Mädchen sind dem Ziele nahe, nur ein Blumentopf harrt noch der Zertrümmerung! Als auch er seine hohe Bestimmung erfüllt hat, wiederholt sich die jubelnde Begeisterung und Begrüßung der Siegerin, der Königin.
Während der frohen Stunden ist ein langer Tisch wieder und wieder von begehrlichen Augen betrachtet worden. Dort liegen die schönen Preise, und lange konnte man hoffen, doch eins von diesen herrlichen Büchern, Messern, Spielen, Alben und Bildern zu erringen. Mit der Hoffnung freilich war’s vorbei; aber wenigstens wollte man wissen, wer nun glücklicher Besitzer werden, was für ein besonders schönen Preis König und Königin bekommen würden. Da kommt der Rektor! Immer größer wird die Erregung, die Neugierde. Freundliches Lob aus freundlichem Munde den Glücklichen – dazu der Preis! Herzliches Bedauern – frohes Ermuntern der Enttäuschten! Übers Jahr, übers Jahr!
Wieder Kommandos zum Sammeln – wieder die Aufstellung. Ein Marsch! Der Zug setzt sich in Bewegung nach „Jehls Garten“. Lange, lange Tische sind gedeckt. Unendliche Berge von belegten Butterbrötchen – unendliche Gläser mit Saft und Wasser! Hungrig ist man geworden und durstig. Die Gläser werden gefüllt und geleert, wieder gefüllt und wieder geleert – die Brotberge schwinden! Das kleine Volk mag nicht mehr sitzen und sucht Stütze und Halt bei Vater und Mutter, die alle gekommen sind. Aber die „Großen“ haben einen anderen Grund zum Aufstehen – sie möchten tanzen! Fort mit den Tischen und Stühlen und Bänken! Freie Bahn dem Tüchtigen! Der erste Tanz gehört den beiden Königspaaren: dem alten vom vorigen Jahr und dem neuen. Das Glück ist blind und hat nicht gesehen, daß es einen großen Jungen mit einem ganz kleinen Mädel zusammengekoppelt hat in diesem Jahr! Was schadet’s? Lustig verläuft der Königstanz, und kurz ist er nur, zwei Runden höchstens. Und dann gibt’s keine Rangordnung mehr – nur eine Tanzordnung! Die Lehrer haben schwere Stunden: „Nur zwanzig Paare auf einmal!“ Ordnung muß sein, auch im Tanzsaal! Und je mehr die „Kleinen“ sich zurückziehen, desto glücklicher sind die „Großen“, bis sie – allerdings erst am späten, sehr späten Abend – auch nach Hause gehen müssen, ganz müde und doch noch froh. Eine Stunde später, und in der Loddenallee ist’s dunkel und still, auch in „Jehls Garten“ sieht und hört man nichts mehr. Tiefe Nacht überall. Aber am anderen Morgen – da ist alles wieder lebendig – wenn auch nicht gar so lernlustig! Alle aber sind sich einig: Ganz so schön wie in diesem konnte es noch nie gewesen sein! Von neuem: 364mal die Vorfreude auf das nächste Mal!
Wenn ich aber jetzt auf einem Spaziergang um das Gebiet des Adolfstiftes in Reinbek herumgehe, einen Blick werfe auf das Haus und seine Wirtschaftsgebäude, den Garten und die Loddenallee durchwandere, dann kommt all die beglückende Freude des alten Reinbeker Vogelschießens zu mir, das heute entschwindet. Ich marschiere, selbst wieder ein Kind, mit den Reinbeker Kindern hinter der Musik her, durch Allee und Garten und Saal, so wie’s war vor siebzig Jahren beim Reinbeker Vogelschießen. Aber Abend muß es sein.
Erna Martens: Erinnerungen an die Schulzeit. In: Festschrift zur 700-Jahrfeier der Gemeinde Reinbek. 1238-1938. Reinbek 1938, S. 162-169.