Eberhard Wagner erzählt von der Nachkriegszeit, 1945/46, und gibt einen Einblick in das Leben auf den kleinen Höfen. Trotz der Härte und vielleicht gerade wegen der Einfachheit spricht er von der sorglosesten Zeit seines Lebens.
„Ich konnte Ciceros Reden übersetzen, einen Differentialquotienten errechnen und lange Passagen aus dem „Faust“ zitieren. Auch wie man mit einem Maschinengewehr umgeht und Handgranaten wirft, hatte man mir beigebracht. Aber das nützte mir alles recht wenig, als ich im Herbst 1945, nach Militärdienst, fünf Monaten Lazarettaufenthalt und geduldigem Warten im Sammellager, wieder in das zivile Leben entlassen wurde. Was ein gerade Neunzehnjähriger brauchte für den Start ins neue Leben, war ein Dach über dem Kopf und eine Möglichkeit zum „Broterwerb“. Und man durfte nicht allzu wählerisch sein in jener recht trostlosen Zeit.
Sicher war es mehr oder minder Zufall und, wie ich bald erkannte, eine glückliche Fügung, dass ich bei Oma Hansen Aufnahme und Arbeit fand, in einer winzigen Ansiedlung am Rande Hamburgs. Da gab es nur ein paar Häuser: den Bauernhof jenseits der Straße mit Wohnhaus, Stall und Scheune, und hier die ehemalige Geflügelfarm, die nun meine neue Bleibe sein sollte. Vor dem Kriege war das ein stattlicher Betrieb mit mehr als 6.000 Hühnern edelster Rassen gewesen, dessen Zuchtergebnisse sich sehen lassen konnten; die lange Reihe der Pokale in Oma Hansens Wohnzimmer bezeugte dies recht eindrucksvoll.
Aber der alte Herr Hansen war längst verstorben, und nur in einem einzigen der zahllosen Hühnerställe auf dem weitläufigen Gelände krähte und gackerte es noch; die anderen waren leer und schon halb verfallen. Dafür jedoch standen jetzt drei Kühe in dem kleinen Wirtschaftsgebäude neben dem Wohnhaus; sie teilten sich den Raum mit zwei Schweinen, und der brave Gaul Alex, der in besseren Zeiten das Hühnerfutter herangeschafft, die Eier und Küken zum Versand ge¬bracht und sonntags die Kutsche gezogen hatte, war auch noch da.
Man hatte sich während des Krieges auf Landwirtschaft umgestellt oder umstellen müssen, ein Stück Land als Weide und zum Heuen hinzu gepachtet, ebenso einen kleinen Acker für den Anbau von Kartoffeln, Rüben und Hafer. Einen Bauernhof im eigentlichen Sinne konnte man das Ganze nicht nennen, selbst die Bezeichnung „Kleinhof“ wäre fast übertrieben. Der Betrieb ernährte seine Bewohner, erbrachte ansonsten vom Milchertrag einmal abgesehen jedoch kaum einen Überschuss. Tochter und Schwiegersohn, die mit im Hause wohnten, betrieben ein Ladengeschäft in Hamburg, wo auch der ältere ihrer beiden Jungen beschäftigt war. „Hier draußen“ war ich also tagsüber die meiste Zeit mit Oma Hansen allein, nachdem der Schwiegersohn der „Chef“, wie er in der Familie genannt wurde seine Anweisungen gegeben und mit den andern in die Stadt gefahren war.
Für den Betrieb war das vielleicht nicht ganz ohne Risiko. Schließlich beschränk¬ten sich meine landwirtschaftlichen Kenntnisse und Erfahrungen auf zwei oder drei Wochen Einsatz als Erntehelfer während der Schulzeit. Aber irgendwie musste ich eben zurechtkommen mit meiner Arbeit. Wie und womit man Kühe, Schweine und ein Pferd füttert um die Hühner kümmerte sich Oma Hansen nach wie vor selbst -, lässt sich ja recht schnell lernen. Auch das Ausmisten des Stalles bedarf eigentlich keiner langen Lehrzeit. Schwieriger war es schon mit dem Melken, das damals ja noch ausschließlich „in Handbetrieb“ erfolgte. Aber auch da hatte ich bald den Bogen raus und die Milch im Eimer, wobei mir gar manches Mal die Kuhschwänze um die Ohren flogen.
Mit der Zeit lernte ich dann auch, die Sense zu gebrauchen und Garben zu binden, Rüben zu ziehen und Kartoffeln auszubuddeln (mit der Hand natürlich!) und sie für den Winter einzumieten. Was an benötigten Gerätschaften im Hause nicht vorhanden war, durfte ich mir drüben beim „richtigen“ Bauern ausleihen. Und von diesem freundlichen Nachbarn wie durch einfaches Abgucken bei den Feldarbeitern ringsum erhielt ich so manchen wertvollen Tipp.
Auf meiner Arbeitsstelle war ich sozusagen „Mädchen für alles“, und ich fühlte mich durchaus wohl in dieser Rolle. Da musste das Gemüsebeet umgegraben oder der Zaun ausgebessert werden, da brauchte der Hund Flocki eine neue Hütte und die Stalltür einen Anstrich; ich lernte, wie man Reisigbesen bindet, ließ das Pferd neu beschlagen beim Schmied und leistete in der Nacht Geburtshilfe, als eine der Kühe kalbte. War auf der anderen Straßenseite einmal Not am Mann, half ich auch dort mit aus – Nachbarschaftshilfe war sozusagen eine Selbstverständlichkeit.
Am meisten Freude hatte ich beim Umgang mit den Tieren. Alex, der wohl längst im „Pensionsalter“ war, ließ sich immer geduldig anschirren und tat, was man von ihm verlangte. Wir wurden bald gute Freunde. Wenn ich mit ihm durch das nahe Dorf kutschierte, um für Oma etwas einzukaufen oder den „Chef“ von der Bahn abzuholen, fühlte ich mich wie ein kleiner König.
Im Herbst einmal – der Hafer war längst geschnitten und eingefahren – pflügte ich den kleinen Acker. Mit Alex vorweg und dem nur einscharigen Pflug dauerte das einen ganzen Tag. Am Wegrand hatte ein Maler seine Staffelei aufgebaut und beobachtete, wie wir Furche um Furche zogen. Und in der Mittagspause durfte ich dann einen Blick auf das halb fertige Werk werfen, das er zu Hause vollenden wollte. Ich möchte gar zu gern wissen, ob Alex und ich in Öl auf Leinwand und schön gerahmt heute noch irgendwo eine Wohnzimmerwand schmücken.
Anderthalb Jahre habe ich bei Oma Hansen verbracht und bei meiner Arbeit so manche praktische Erfahrung gesammelt, ehe ich mich noch einmal auf die Schulbank setzte. Für die große Mehrheit der Bevölkerung, zumal in den zerbombten Städten, waren diese ersten Nachkriegsjahre eine recht bittere und entbehrungsreiche Zeit. Für mich waren sie, wenn ich es recht bedenke, eigentlich die sorgloseste Zeit meines Lebens.“