Auf die Einladung eines britischen Jugendherbergsverbandes konnte Ursula Dietrichs schließlich einige Wochen in England verbringen. Im letzten Teil ihrer Jugenderinnerungen erzählt sie von diesem und weiteren Aufenthalten auf der „Insel“:
„In Hannover wurden Gerd und ich in einen reservierten Zug verfrachtet, der deutsche Kriegsbräute nach London bringen sollte, einige mit Kleinkindern. Alle waren hoffnungsvoll, dass sie an der Waterloo-Station von ihren Verlobten abgeholt werden würden, ansonsten drohte ihnen die Rückreise im verplombten Zug. In Hoek-van-Holland betraten wir unter Sicherheitskontrollen die Fähre, in Harwich das gleiche Ritual. Ich versicherte immer wieder: ‘No fiancée, just visitor!’, und konnte das mit meiner Identity Card ja auch belegen. Ich muss bekennen, dass ich mich einiger deutscher Frauen schämte, die sich auf dem Schiff unmöglich benahmen. Sie stürzten sich auf alles Ess- und Trinkbare und machten unserem Land wenig Ehre!
Die erste Nacht in London verbrachten wir in einer ungemütlichen, überfüllten Jugendherberge, denn wir sollten für eine Sendung in der BBC interviewt werden. War das ein aufregendes Spektakel! Uns wurde das Lampenfieber aber durch einen ganz netten Exil-Österreicher genommen, der das Frage- und Antwortspiel mit uns durchprobte, so dass kein Angstgefühl aufkommen konnte. Befragt wurden wir über das Studentenleben im Nachkriegsdeutschland und die deutsch-englischen Hilfsprojekte, an denen wir teilgenommen hatten. In der Familie Catchpool wurden wir später äußerst freundlich aufgenommen – wie heimgekehrte Kinder. Sie wohnten in Welwyn Garden City, einer selbstverwalteten Gartenstadt der Quaker-Gemeinde. Wir staunten nicht schlecht, als wir bei einem Meeting anderen Freunden vorgestellt wurden, die uns wiederum einluden, falls wir Zeit und Lust hätten nach unserer Wandertour durch Südengland. So viel Gastfreundlichkeit, Offenheit, Toleranz und Nonchalance hatte ich noch nie erlebt! Mir gefiel der skurrile, trockene Humor. Wir kleine, unbedeutende Studenten wurden so respektvoll angenommen und behandelt, wie wir es nicht von zu Hause kannten. Die braune Vergangenheit hatte anders ausgesehen.
Von Welwyn Garden City aus gingen wir mit einem Lehrer, Mr. Thomson, und einem australischen Quaker-Ehepaar, den Olsons, auf eine typische Hostel-Tour durch Dorset und Somerset. Wir fuhren mit der Bahn oder dem Bus zur nächsten ausgewählten Jugendherberge, notfalls trampten wir auch oder wanderten ein paar Kilometer zu Fuß. Die englischen Herbergen öffnen erst um 17 Uhr, man schläft in großen Sälen, bekommt Lunch und Breakfast und muss bis 10 Uhr am nächsten Morgen weiterziehen.
Unsere Tour führte nicht nur durch eine wunderschöne Landschaft, wir besichtigten die beeindruckenden gotischen Kathedralen von Winchester und Exeter, genossen den eleganten Badeort Bournemouth und das klassisch anmutende Bath. Oft gab es abends Gespräche, Diskussionen mit jungen Engländern und leider auch lästige, immer wiederkehrende Fragen nach ‘Hitler und Nationalsozialismus’. Niemals schlug uns Ablehnung entgegen, eher Neugierde und die Feststellung, dass wir trotz allem ganz ‘normale’ Jugendliche waren, wie sie selber. Von unseren australischen Begleitern bekamen wir in kritischen Gesprächsrunden neutrale Schützenhilfe, und Mr. Thomson lieferte als Geschichtslehrer detailliertes Hintergrundwissen. Die jungen Engländer hatten ja teilweise die gleichen Kriegserfahrungen wie wir gemacht, z.B. durch Bombardierung ihrer Städte oder durch den Verlust eines Soldaten im Bekannten- oder Familienkreis. Nach jedem politischen Gespräch waren wir jungen Leute uns einig: nie wieder Krieg! Wir wollen einen dauerhaften Frieden.
In London traf ich mit einigen Teilnehmern aus Duhnen zusammen, und freundlicherweise luden sie mich in das Theater, ins Ballett oder Museum ein. So sah ich zum ersten Mal ein Musical, ‘Annie, get your gun’ war es wohl. Durch die National Gallery führte mich mein Freund Allan W., der mir streng empfahl, nur sechs wichtige – von ihm ausgesuchte – Gemälde anzusehen. Zu meinem Glück war neben Rubens und Tizian auch das Renoir-Bild ‚Les parapluies‘ darunter und eine herrliche Landschaft von John Constable.
Nach 4 intensiven, ereignisreichen Wochen kehrten wir, angefüllt mit hundertfältigen Erlebnissen und Eindrücken, nach Deutschland zurück. Ich fühlte mich reich beschenkt und blickte voller Hoffnung in die Zukunft. Das würde nicht die einzige Reise auf die Insel sein! Ich beschloss, mein Kunstgeschichtsstudium auf englische Landschaftsmalerei auszudehnen, englische Autoren zu lesen, mich mit englischer Geschichte zu befassen und mir Shakespeare-Dramen anzuschauen, wo immer sie aufgeführt wurden. Mein Vater nannte mich fortan die Anglophile in der Familie!
Im Sommer 1949 verlebte ich mehrere Wochen in England. Erst in einer Jugendherberge in Sandown auf der wunderschönen Isle of Wight, dann Familienurlaub mit der befreundeten Familie Wills in Cornwall, bei meinen englischen Wahl-Eltern in Welwyn Garden City und Oxford und natürlich in London. Ich wohnte bei der Schwester von Liz, Diana Salisbury, und genoss das freizügige Leben, die Selbständigkeit, das Herumbummeln in der quirligen, faszinierenden Hauptstadt.
Wie gern hätte ich in London weiterstudiert, aber das wäre zu der damaligen Zeit ziemlich problematisch gewesen! Ein bitterböser, ernst zu nehmender Brief meiner Eltern beorderte mich nach Hamburg zurück: Schließlich hätte ich mein Studium zu beenden… und was soll dieses Herumgereise eigentlich… wo bleibt da die Dankbarkeit… vergiss Deine Herkunft nicht… – so oder ähnlich klangen die Vorwürfe und Vorhaltungen. Also kehrte ich schweren Herzens zurück. Aber meine Liebe zu England und zu seinen Menschen ging nie verloren!“