Eine wahre Geschichte für Juraj, aufgeschrieben von seinem Opa Prof. Dr. Wolfgang im Februar 2003
Lieber Juraj!
Es war 1945, im schönsten Frühling. Da wäre mir das Klavierspielen fast zum Verhängnis geworden. Nicht etwa, dass ich zu viel geübt hätte und mir vielleicht die Finger wund gespielt hätte und dann eine Blutvergiftung bekommen hätte und daran fast gestorben wäre. Nein, viel einfacher.
Es waren ja die letzten Kriegswochen – das ahnten die Erwachsenen, und wir Kinder hörten es aus ihren Reden heraus. Aber Genaues wusste man natürlich nicht. Also ging das Leben seinen gewohnten Gang (allerdings unter Kriegsbedingungen, das bedeutete für uns hauptsächlich häufige Luftangriffe), und man tat die gewohnten Dinge. Dazu gehörte für mich auch der Klavierunterricht. Einmal in der Woche ging ich zu Fräulein Benneke, meiner Klavierlehrerin.
Wir wohnten in Reinbek etwas abseits vom Ort in der Siedlung „Wildenhof“, und zwischen dieser und dem Ort lag ein großer Bauernhof, „Gut Schaumann“. Viele Felder und Weiden gab es damals noch, und durch diese führte mein täglicher Weg, zur Schule und eben auch zur Klavierstunde. Das war der allen bekannte „Feldweg“, ohne Baum oder Strauch, aber normalerweise sehr idyllisch und ländlich. Er führte ungefähr zehn Minuten durch freie Felder und Weiden, dann zum „Klosterbergenwald“ mit seinen hohen Bäumen und verlief schließlich weiter an dessen Rand. Ein kleiner strauchbestandener Knick bildete die Grenze zwischen Feldweg und Hochwald. Ich könnte über schöne Naturerlebnisse berichten, wie flirrend heiß es dort im Hochsommer war, wie eisig glatt manchmal im Winter. Wirklich ein schöner Schulweg – für gewöhnlich. Heute aber sollte es ganz anders kommen.
Es ist früher Nachmittag, sonnig und golden liegt der Feldweg vor mir. Ich habe meinen Schulranzen auf dem Rücken, darin sind die Noten für die Klavierstunde. Etwas unruhig bin ich schon, denn seit Tagen gibt es in unserer Gegend „Tiefflieger“. Das sind englische (also „feindliche“) Jagdflugzeuge, die sehr dicht über dem Boden dahin brausen und ganz schnell auftauchen und wieder verschwinden. Sie haben Maschinengewehre an Bord und feuern auf alles, was sich bewegt, manchmal auch in offene Fenster von Häusern. Ein paarmal schon sind welche dicht an unserem Haus vorbeigesaust, allerdings ohne zu schießen, denn es war glücklicherweise niemand von uns zu sehen. Meine Mutter meint, auf Kinder werden sie ja wohl nicht schießen, so unmenschlich kann es nicht mal im Krieg zugehen. Aber, wie gesagt, etwas Angst habe ich schon.
Es sind zehn Minuten über den Feldweg bis zum Wald. Ich beeile mich. Es riecht so schön nach frischer Wiese. Ein paar Lerchen zwitschern in der Luft. Rechts vom Weg liegen in einiger Entfernung die Gutshäuser. Alles ist friedlich und schön.
Da – ein fernes Brummen in der Luft. Ich habe für Flugzeuggeräusche sehr spitze Ohren. Es werden doch wohl nicht. . . Ich renne auf den Wald zu. Das Brummen wird lauter. Ich sehe im Laufen nach links über das weite, freie Feld, von wo die Geräusche kommen. Noch fünfzig Meter bis zum Wald. Am Horizont plötzlich zwei Tiefflieger, ganz dicht über dem Boden. Gott sei Dank scheinen sie schräg vorbei fliegen zu wollen – sie werden wohl gleich wieder am Horizont verschwinden. Mein Herz rast, ich stürme weiter. Noch zwanzig Meter zum Wald.
Da wird das Brummen lauter, sehr laut. Ich sehe sie hinter mir heranrasen, genau auf mich zu. Sie müssen mich gesehen und ihre Richtung geändert haben. Ich denke nur noch an den Wald. Warum sind die letzten Meter so endlos? Wenn sie jetzt schießen, bin ich tot. Aber da bin ich am Knick. Die Büsche sind das letzte Hindernis. Die Tiefflieger sind direkt hinter mir. Mit letztem Schwung nehme ich den kleinen Berg, lasse ich mich blitzschnell hinter den Knick fallen und lege mich lang in das Gestrüpp des Waldbodens, eng an den Knick geschmiegt. Da knallt es über mir ungefähr zehnmal im Maschinengewehrtakt. Sie schießen auf mich! Kugeln pfeifen über mich weg. Der Knick schützt mich. Dann sind sie auch schon weiter. Aufatmen. Glück gehabt – oder einen guten Schutzengel. Noch einmal höre ich sie eine Salve abschießen, etwas weiter weg. Das gilt nicht mir, denke ich. Vielleicht haben sie auch auf der Hamburgerstraße, die da hinten durch den Wald geht, jemanden gesehen. Ich stehe auf, klopfe den Waldboden von der Hose und gehe einfach weiter, zur Klavierstunde. Es ging alles so schnell, dass ich es gar nicht richtig erfassen kann.
So lebte man im Krieg, und so ist es wohl auch heute noch in Kriegsgebieten. Irgendwie optimistisch, fast sorglos von Moment zu Moment. In ruhigen Zeiten, wie sie jetzt hier bei uns herrschen, kann man sich nicht vorstellen, dass Eltern ihr Kind bei solchen Gefahren aus dem Haus lassen, und dann auch noch zum Klavierunterricht! Aber der Kriegszustand war der normale Alltag geworden, und mit den Gefahren musste man einfach leben. Man war voller Hoffnung, dass einem nichts Schlimmes passieren würde.
Ich hätte die Episode fast für unwirklich gehalten und wohl bald vergessen, wenn nicht noch ein kleines Kapitel dazu gekommen wäre. Als ich am späten Nachmittag wieder zu Hause war, sprach man darüber, dass heute Nachmittag Tiefflieger einen Mann erschossen hätten, der auf der Hamburgerstraße mit einem Pferdefuhrwerk unterwegs war. Herrn Funke, den wir kannten.
Wäre ich drei Sekunden langsamer gewesen, hätten sie mich getroffen. Noch drei Sekunden später – und Herr Funke musste sein Leben lassen.
Eine wahre Geschichte!
Dein Opa