Der Sonntagnachmittag
… konnte ganz schön langweilig sein für die Jugend Reinbeks um 1900. Herbert Rathmann erzählt in seinen Memoiren von Spaziergängen und der Kinderlehre, aber auch vom neuesten Schrei: strombetriebenen Fähren und Automaten.
„Fester Bestandteil unserer Sonntagnachmittage war die Kinderlehre. Nach dem Mittagessen mussten wir uns fein anziehen, alle Jungen trugen den Kieler Matrosenanzug. Die Stiefel wurden blank geputzt, das Haar brauchte nicht gekämmt zu werden, es war vom Barbier Herrn Bethause mit der Maschine kurz geschoren, einen knappen Zentimeter lang. Wir Jungens hatten das Haar ebenso zu tragen, Widerspruch wäre nutzlos gewesen. Mädchen hatten größere Sorgen mit der Sonntagskleidung. Was mussten die alles anziehen! Und dann das Getüter mit den langen Zöpfen und Haarschleifen!
Gern hätten wir nach dem langen Stillsitzen mit den Dorfkindern getobt und kleine Fehden ausgetragen. Daran hinderte uns aber die Sonntagskleidung. Ein Kino gab es damals noch nicht. Also gingen wir brav nach Hause zum Kaffeetrinken mit den Eltern und zum anschließenden Spaziergang.
Diese Spaziergänge im Sonntagsanzug und mit der üblichen Matrosenmütze, im bedächtigen Schritt im Gefolge der Eltern, waren bei uns Kindern nicht sehr beliebt. Öfter gab es längeren Aufenthalt bei Begegnungen mit bekannten Familien. Man begrüßte sich, verweilte, wir Jungens aber standen ungeduldig herum und warteten auf ein Weitergehen.
Eine Ausnahme bildete der Spaziergang zum Ausflugslokal „Jägersbronnen“ an der Bille zwischen Wentorf und dem Bergedorfer Gehölz. Damit war ein besonderes Vergnügen für uns verbunden. Wir fuhren auf der Bille mit einer elektrisch betriebenen Bootsfähre dorthin. Diese Fähre war eine große Neuheit und Sensation für die Zeit um das Jahr 1910. Elektrisches Licht und Kraftstrom konnten sich zu dieser Zeit nur reiche Villenbesitzer in Reinbek und Wentorf leisten. Da es noch keine allgemeinen Versorgungsleitungen gab, wurde der Strom in die Häuser der Wohlhabenden vermittels eigener Anlagen geliefert. Diese Leitungen wurden vom privatwirtschaftlichen Elektrizitätswerk des Herrn Sperling unterhalten.
In allen Bürgerhäusern, in Geschäften und auf den Straßen brannten immer noch bei Dunkelheit die vertrauten Petroleumlampen. Der Elektriker des Dorfes Reinbek, Herr Pichinot, hatte als Novität die Anlage der Fähre installiert. Durch eine entlang der Bille errichteten Oberleitung wurde der Motor im Fährboot elektrisch angetrieben und in Fahrt gesetzt. Der Einstieg für die Fähre lag unter der Eisenbahnbrücke am Krähenwald, bekannt unter dem Namen „Hexentreppe“. Von diesem Punkt aus ging die Fahrt einige hundert Meter die Bille abwärts zu dem beliebten Gartenlokal.
Im Musikpavillon des weiten Gartens spielte eine Kapelle. Man saß plaudernd unter den Bäumen entlang der Bille. Wir Kinder schlurften genüsslich eine rote oder grüne Brause. Einen besonderen Spaß bereiteten uns die für die damalige Zeit höchst modernen Automaten mit allerlei Süßigkeiten. Dazu hatten die Automaten noch die Gestalt einer Henne! Sobald der von den Eltern spendierte Groschen verschwunden war, ertönte ein Gackern. Heraus fiel ein Blechei, gefüllt mit Bonbons oder Schokolade.“
Aus: Herbert Rathmann: „Jugendjahre in Reinbek“ – 1973.