Wenn Friedrich-Wilhelm Müller eine saftige Birne naschen wollte, musste er zuerst auf einer Fähre den Fluss überqueren. Denn zwischen seinem Elternhaus in Brunsbüttel und den vielversprechenden Birnenbäumen lag die Braake.
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Friedrich-Wilhelm Müller fiel am 5. November 1942 in Russland. Damals war er 24 Jahre alt.
Mit prall gefüllten Körben kam der Junge von den Ausflügen zurück. Seine Mutter wusste, dass ihr Ältester die Birnen besonders gern isst. Riesige Weckgläser hat sie deshalb gefüllt, damit er auch in der kalten Jahreszeit jederzeit die süßen Früchte essen konnte. Das letzte Mal war Friedrich-Wilhelm im September 1942 bei seinen Birnenbäumen. Das Obst, das seine Mutter danach einkochte, gibt es noch immer. Es steht in einem großen Weckglas im Archiv des Reinbeker Museumsvereins – als warte es auf ihn, den jungen Mann. Naschen kann Friedrich-Wilhelm seine Lieblingsfrüchte schon lange nicht mehr. Denn er blieb im Krieg. Zwei Monate nach dem letzten Heimaturlaub in Brunsbüttel fiel der damals 24-Jährige am 5. November 1942 im Zweiten Weltkrieg in Russland.
Kennengelernt hat Lilly Müller ihren Schwager nie. Das für ihn bestimmte Birnenglas begleitete sie aber über Jahrzehnte. Selbst in Zeiten, als die Lebensmittel knapp waren, wenn manchmal sogar der Magen knurrte, rührte niemand aus der Familie die Früchte an. „Es war eine innere Sperre in mir. Die Birnen waren für ihn bestimmt“, sagt die Reinbekerin heute. 1944, zwei Jahre nachdem Friedrich-Wilhelm gefallen war, hat sie ihren Mann Otto kennengelernt, 1946 heirateten sie. Dass ihr Ehemann einen älteren Bruder hatte, wusste sie von Anfang an. „Fast jede Familie hat im Krieg jemanden verloren. Das musste nicht groß thematisiert werden“, erklärt die heute 85-Jährige. Friedrich-Wilhelm sei immer ein Teil der Familie geblieben.
Als wäre es gestern gewesen, kann sich Lilly Müller daran erinnern, wie ihre Schwiegermutter über ihren verstorbenen Sohn sprachen. Gemeinsam standen die beiden Frauen beim Kartoffelschälen in der Küche. „Das da ist der Becher von Fietje“, sagte die ältere liebevoll beiläufig. Mit schwerem Herzen sah sie wenig später ihren jüngeren Sohn Otto an. Er, den alle Otje riefen, trug in den Nachkriegsjahren die Kleider seines gefallenen Bruders. „Für neue war einfach kein Geld da“, erklärt Lilly Müller. Ihr Otje und sein sechs Jahre älterer Bruder hatten in Kinder- und Jugendtagen ein inniges Verhältnis. Bevor Friedrich-Wilhelm die Realschule abschloss und eine Flugzeugausbildung in Hamburg begann, machten die beiden die Gegend unsicher. „Jeden Morgen liefen sie im Galopp zur Fähre, die sie zur Schule bringen sollte. Weil sie immer auf den letzten Drücker kamen, mussten sie oft von einer Stele zur nächsten springen, um überhaupt noch an Bord zu kommen“, erzählt die 85-Jährige. Der Verlust seines Fietje hat auch ihren Mann sehr getroffen. Die Erzählungen aus glücklichen und unbeschwerten Kindertagen begleitete Lilly Müller ein Leben lang.
Mittlerweile ist auch ihr Mann verstorben. Die 85-jährige Reinbekerin ist sich aber seines Einverständnisses sicher, dass das Birnenglas, das 68 Jahre in der Familie gehütet wurde wie ein Schatz, heute im Museumsarchiv steht. Dort erzählt jedes Stück eine Geschichte. Und das Weckglas die von Friedrich-Wilhelm, dem jungen Mann, der so gern süßes Obst aß.