Kühlen ohne elektrischen Kühlschrank? Das ging! Herbert Rathmann, Sohn des Feinkosthändlers Rathmann, erklärt’s in seinem Erinnerungsbuch „Jugendjahre in Reinbek“:
„Die Tage wurden kälter. Der erste Schnee fiel schon im Dezember. Frost kam hinterdrein. Die Zeit für das alljährliche Eisfahren, ‘Eisen’ genannt, kam heran.
Damals, im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts [des 20. Jhdts], gab es noch keine elektrischen Kühlschränke, keine elektrischen Kühlanlagen zum Aufbewahren oder zur Schaustellung von Fleisch, Wild und Geflügel, Fisch, Salaten.
In unserem Geschäft benötigten wir aber das ganze Jahr hindurch einen Lagerraum, gekühlt durch Natureis. Darum musste, sobald das Wasser im nahegelegenen Mühlenteich gefroren war und somit ‘hielt’, das benötigte Eis herausgesägt werden. Zunächst wurden von unserem Vater sechs kräftige Männer aus dem Dorf bestellt. Meistens waren es Bauarbeiter, die des Frostes wegen doch am Bau nicht arbeiten konnten. Von Onkel Adolph Niemann kamen dazu zwei Pferdegespanne mit Kutschern. Das ‘Eisen’ konnte beginnen.
In die dicke Eisdecke des Mühlenteichs musste ein Loch gestoßen werden, welches die Einführung der Eissäge ermöglichte. Von dieser Öffnung aus sägten die Männer große Streifen aus der Eisfläche. Mit langen Haken wurden die ausgesägten Schollen ans Land gezogen und in kleinere Stücke zerlegt. Diese wurden auf die bereitstehenden Pferdefuhrwerke verladen und zu unserem Hofplatz hinter dem Geschäftshaus gefahren.
Auf dem Mühlenteich war nach dem Heraussägen des Eises wieder eine dünne gefährliche Eisschicht entstanden. Um die Schlittschuhläufer nicht zu gefährden, wurden von den Arbeitern um das entstandene Loch herum gut sichtbare Eisstücke aufgeschichtet.
Auf unserem Hofplatz befand sich unser ‘Eiskeller’. Dieser sogenannte Eiskeller war ein hohes, festes, viereckiges Gebäude aus dicken, doppelten Steinwänden, mit einer Isolierschicht von Torfmull dazwischen als Abschirmung gegen die Sonnenwärme im Sommer.
Durch die weite Fensteröffnung des Eishauses warf man die Eisstücke vom Wagen aus hinein. Innen standen zwei Männer mit schweren Holzhämmern bereit und zerschlugen die Eisstücke zu kleinsten Splittern. Durch diese Zerkleinerung wurde erreicht, dass das Eis, fest zusammengepresst, zu einem großen Block zusammenfror.
Das Eishaus hatte einen ungemauerten Boden, der das Schmelzwasser im Laufe des Jahres aufsog. Im Spätherbst lag gewöhnlich nur noch ein kläglicher Eisrest auf dem Grund des Eishauses. Vor dem Haus befand sich ein niedriger Anbau. Eine Verbindungstür ließ die Kälte vom großen Raum hinein. In diesem Vorraum wurden die Waren naturgekühlt und frisch gehalten.
So hatten wir das ganze Jahr hindurch Natureis zur Verfügung. Bei schweren Krankheitsfällen konnten wir helfen, wenn die Ärzte um Eiskompressen verlegen waren.
Volle zwei Tage wurden benötigt, um das Eishaus zu füllen. Viel Arbeit und Kraft mussten beim Eisfahren eingesetzt werden – und dazu wurden viele Flaschen Rum und Rotwein zur Zubereitung des obligaten „Eisbrechers“ gebraucht. Zu diesem stärkenden Getränk war möglichst wenig, aber heißes Wasser erforderlich, jedoch viel Rum und ein Schuss Rotwein mit Zucker nach Belieben. Seit meinen Kindertagen verbindet sich ein starker ‘Eisbrecher’, an kalten Wintertagen zum Aufwärmen getrunken, mit der Erinnerung an das Eisfahren von damals.
Eifrig nahmen wir Kinder am ‘Eisen’ teil. Die harte Arbeit der Männer auf dem glatten Mühlenteich, den Transport und das Bearbeiten des Eises im Hof und Eishaus wussten wir zu würdigen. Wirklich bei der Sache waren wir, wenn Emmi Butterbrote austeilte und heißen Grog dazu ausschenkte. Bei diesen eingelegten Stärkungspausen am Teich und am Eishaus gab es viel Spaß.
Nach Feierabend wurde der Tageslohn gezahlt, was wiederum nicht ohne manchen steifen Grog ging. Die Männer tauten sichtlich auf, und unsere beiden Mädchen hatten sich gelegentlich der allzu freundlich gezeigten Dankbarkeit der Eismänner zu erwehren. Auch wir Kinder bekamen unseren ‘Eisbrecher’, allerdings nicht so stark wie üblich, und prosteten den Eismännern zu. Wenn wir auch nicht mitgeschuftet hatten, so fühlten wir uns doch, besonders mit dem Grogglas in der Hand, voll zugehörig.“