Dieses sind die Erinnerungen einer alten Reinbekerin – niedergeschrieben im Winterhalbjahr 1983/84 von Ulrich Troll (1920 -1994)
Else Scharnberg Teil 2/4
Reinbek besaß ein eigenes privates Elektrizitätswerk, es steht noch heute an derselben Stelle am Mühlenteich. Der frühere Besitzer war Herr Sperling, er wohnte in der Kückallee. Sein Haus besitzt heute Fräulein Irmgard Schröder. Es ist ein Schmuckstück geworden.
Bevor wir aber das elektrische Licht bekamen, zündete der Nachtwächter, Herr Lübbers, regelmäßig die Straßenlaternen an, er hatte genug zu tun, um im gesamten Ort herumzukommen. Außerdem war er noch Schuster und Hauswart der Volksschule. Nachts versahen regelmäßig unsere drei Polizisten Jarchow, Jessel und Vogelsang ihren Dienst, um nach dem Rechten zu sehen. Doch selten geschah etwas, was den Zorn der Obrigkeit hervorgerufen hätte.
Gemütlich ging es auch auf der Eisenbahn zu. Der Bahnhofvorsteher kannte genau seine Kunden, die morgens mit der Bahn nach Hamburg fuhren. Fehlte bei Abfahrt des Zuges noch einer der Fahrgäste, so wartete man noch einen Augenblick. Oftmals auch musste erst der Skat in der Bahnhofsgastwirtschaft zu Ende gedroschen werden, bevor der Zug sich in Gang setzen konnte. Zu den Bahnsteigen gehörten kleine Häuschen, in denen die Fahrkartenknipser saßen, um die Billetts zu lochen. Einige sind mir noch in Erinnerung: die Herren Klemm und Kolpak und Frau Westphal. Ja, das waren noch gemütliche Zeiten – doch der Fortschritt hat alles verändert.
Bei Ausbruch des Krieges 1914 haben wir jungen Mädchen und Frauen den Bahnhofsdienst verrichtet und zwar kamen hier alle Militärzüge durch, die an die Front fuhren. Damals war die Begeisterung noch sehr groß. Wir schenkten Kaffee aus und gaben Rauchwaren mit auf den Transport. Auch mein Vater zog gleich mit in den Krieg – und das voller Begeisterung.
„Seht ihr man zu, wie ihr fertig werdet, das Vaterland muss verteidigt werden. In einem viertel Jahr sind wir wieder zu Hause!“ Daraus wurde ja leider nichts, 4 Jahre musste man warten, bevor die Soldaten zurückkamen. Ich erinnere noch, dass Engelmann mit dem Fahrrad durch Reinbek fuhr, um von der Post die Hiobsbotschaften über Vermisste und Gefallene in die Häuser zu bringen – es war eine schlimme Zeit des Bangens. Denn alle Männer waren eingezogen oder meldeten sich freiwillig, um fürs Vaterland zu kämpfen. Gold gab’s für Eisen, für den Endsieg – aber es kam alles anders.
Die Gaststätte am Bahnhof war Treffpunkt der Reinbeker Geschäftsleute, dort wurden alle Neuigkeiten diskutiert und die neuesten Witze zum Besten gegeben.
Einer der größten Originale damaliger Zeit war der Friseur Kirsten.
Schräg gegenüber dem Bahnhof steht – auch heute noch – das Amtsgericht. In seinem Gebäude befanden sich kleine Zellen zum Einsitzen von Übeltätern und zur Ausnüchterung Betrunkener. Der Gefängniswärter hieß Eggers. Er hatte stets eine Flasche Terpentin bei sich und war der Ansicht, dass der Genuss des Inhaltes seiner Gesundheit sehr zuträglich wäre. Auch er ein Original!
In der Sophienstraße lag – auch heute noch – ein herrliches Gebäude, das frühere Sophienbad, eine Wasserkuranstalt. Das heilsame Gewässer entsprang einer Quelle mitten in der Wildkoppel und gelang durch einen Graben in das Sophienbad. Leider wurde diese Quelle zerstört. Auch wir holten uns das Quellwasser von dort her. Die Ärzte des Heilbades hießen Dr. Andresen und Dr. Henningsen. Für die Kinder der Ärzte sorgte ein Frl. Harders als Erzieherin. Deren Eltern wohnten wiederum in der Lindenstraße und hatten eine Wäscherei. Sie selbst aber heiratete den Kapitän Roll, der die Passagierdampfer „Bayern“ und „Württemberg“ fuhr. Als Koch im Sophienbad fungierte Herr Diesner.
Er führte ein strenges Regiment. Später eröffnete er selbst eine Pension in der Bismarckstraße. Diesner verkaufte das riesige Haus an Prof. Heise. Danach errichtete er wieder eine Pension in der Sophienstraße, denn es kamen viele Erholungssuchende nach Reinbek.
Eine Quelle floss mitten durch die Wildkoppel, umgeben mit viel Unterholz, kleine Veilchen und Anemonen blühten auf dem feuchten Boden. Hinter unseren Häusern, also parallel zum Schmiedesberg, ging ebenfalls ein kleiner Bach bis hinunter zum Amtsgericht. Jeder Anlieger hatte eine kleine Brücke zum Wald. Dafür kassierte der Fiskus einige Reichsmark im Jahr. Hühner konnte man sich halten, die im Wald laufen durften, pro Huhn wurden 5 Pfg. im Jahr gezahlt. Später verkaufte der Fiskus die Hälfte der Wildkoppel, und auch wir erwarben ein Stück davon, wie viele andere auch.
Mitten durch den Wald entstand eine Straße – die heutige Parkallee. Der damalige Bürgermeister Kleist war ein Freund von Wilhelm Nagel, der für sich ebenfalls ein großes Stück der Wildkoppel erwarb, um den Betrieb zu erweitern. Exbesitzer des „Kaffeehaus Nagel“ war Emil Hotop, der später das international bekannte „Metropol“ in Genf kaufte, Sitz des damaligen Völkerbundes. Wilhelm Nagels Hotel wurde dann später das „Kaffeehaus Nagel“ mit Bäckerei und Konditorei. Übrigens hatte er bei meinem Großvater Gottfried Bisse gelernt. Wilhelm Nagel und der Sohn meines Großvaters, Heini Bisse, gingen zusammen auf Wanderschaft, das war damals üblich. Später veranstaltete Wilhelm Nagel Tanztees, und aus aller Gegend kamen die jungen Leute zu diesem Vergnügen. Ich erinnere, dass diese Tanztees bis Mitternacht ausgedehnt wurden. Bei allen großen Veranstaltungen, aber auch regelmäßig zu den Tanzabenden samstags und sonntags erschien die „Blumen-Else“ in ihrer echten Vierländer Tracht und verkaufte an die Gäste Blumensträuße. Reisen, wie man sie heute veranstaltet, gab es damals noch nicht. Man vergnügte sich auf diese Art und Weise, oder man wanderte zu Fuß durch den Sachsenwald von Aumühle, Friedrichsruh nach Grande hin und zurück, und wer nicht so weit laufen konnte, kehrte bei Niemanns Gasthof im Silk ein, der sogar eine Kegelbahn hatte.
Wenn zur damaligen Zeit in der Stadt Hamburg von Reinbek die Rede war, dann wusste keiner der Städter, wo wohl dieser Ort liegt. Man brauchte aber nur das „Kaffeehaus Nagel“ erwähnen -dann wusste man sofort Bescheid!
Auch die Geburtstage meines Bruders Rudi wurden immer in Silk gefeiert. Die Einladungen gingen alle schon wochenlang voraus an diejenigen, die mit meiner Schwester Martha „Rote Kreuz“ spielten. Dazu gehörten: Lisa Heick, Anneliese Gutknecht, Herbert Rathmann und einige mehr. Im Gasthof fand die Feier statt, anschließend kegelte man um Geschenke, und abends ging es dann mit Laternen nach Hause, wo es zum Schluss nochmals Butterbrote und Saft gab – das war immer ein großer Festtag für uns.
Öfter mietete mein Großvater, Gottfried Bisse, einen Pferdewagen, mit dem es dann durch die herrliche Gegend ging. Herr Albertz und Herr Karl Loose besaßen beide ein Fuhrunternehmen, wo man solche Wagen mieten konnte. Autos waren damals eine Seltenheit.
Eines Tages, erinnere ich, packte meinen Großvater, also Gottfried Bisse, die Reiselust. Er wollte mit seiner Frau Dorette nach Kopenhagen. Vorerst aber kaufte er einen Geldschrank zwecks Sicherstellung der Wertsachen und Papiere, damit alles seine Ordnung hatte. Dann ging es los. Aber schon nach drei Tagen waren sie wieder zu Hause. Mein Großvater behauptete, Magenschmerzen gehabt zu haben und ängstigte sich, unterwegs krank zu werden. Aber als er mit seiner Frau wieder am Reinbeker Bahnhof angelangt war, spürte er rein gar nichts mehr, sondern ging gleich in die Bahnhofswirtschaft, ließ sich ein großes Bier kredenzen – und schickte seine Dorette nach Hause! In Tränen aufgelöst, kam sie dort an: das war die Reise nach Kopenhagen!
Herr Jahnke, der mit der Familie Westphalen ein verwandtschaftliches Verhältnis hatte, war ein eifriger Prediger, der auf den Straßen Reinbeks die Menschen bekehren wollte. Man hörte ihm gerne zu, er war sehr gutmütig und freigiebig trotz seiner Armut und lud alle Gäste in seine Wohnung ein, die auf dem Zimmermannsplatz in der Schulstraße lag.
Ebenfalls dort wohnten die Familien Sanmann und Schomann. Mutter Schomann war Witwe und hatte eine Reihe von Kindern großzuziehen. Sie kümmerte sich in rührender Weise um sie, arbeitete von morgens bis abends und war sehr um sie besorgt. Die Kinder haben es ihr gedankt, denn aus allen ist etwas geworden. Besonders ihr Enkel Helmut hat es weit gebracht, er ist heute Fraktionsvorsitzender und Stadtrat im Reinbeker Rathaus. Schade ist nur, dass Oma Schomann diese Entwicklung nicht mehr mitbekommen hat.