Der Historiker Dr. Dirk Bavendamm kam 1947 nach Reinbek und lebt bis heute in unserer Stadt. Dr. Bavendamm beschreibt hier seine eigenen Erinnerungen an die Schulzeit und verweist für den Kontext auf das Buch „Reinbek – eine Stadt im Grünen zwischen Hamburg und Sachsenwald“, das er in den 1980er Jahre im Auftrag der Stadt Reinbek geschrieben hat.
Die Angaben über Dr. Stienen stammen von einem seiner Enkelsöhne, den Dr. Bavendamm aus Mangel an anderen Quellen befragte.
Meine Erinnerungen an die Sachsenwaldschule 1950 bis 1958
Als traumatisiertes Flüchtlingskind aus dem kommunistisch gewordenen Sachsen, wo die Versetzungen im Herbst stattfanden, kam ich im Herbst 1947 an die Reinbeker „Volksschule“, die sich damals im heutigen VHS-Gebäude befand. Dort ließen mich meine Eltern „springen“, d.h. ich kam in eine Klasse, für die ich ein halbes Jahr zu jung und unreif war. Folglich musste ich mich auch ein halbes Jahr zu früh der einwöchigen Aufnahmeprüfung stellen, um an die Sachsenwaldschule zu kommen. Folglich bestand ich diese Prüfung nicht, und folglich verdanke ich es nur der Fürsprache einer guten Bekannten meiner Eltern, die Vorsitzende des Elternbeirates war, dass ich trotzdem schon 1950 auf das Reinbeker Gymnasium kam.
In Schleswig-Holstein galten damals sechs Jahre Grundschule als gesetzliche Norm. Da ich dadurch gleich in die Quarta kam, fehlen mir seitdem zwei Jahre Gymnasium. Das Gebäude bot damals zur Schulstraße hin den auch heute noch gewohnten Anblick. Natürlich waren die beiden Kastanien im Vorgarten des bildschönen Klinkerbaus noch klein, weil man sie ja erst vor 23 Jahren anlässlich der Gründung gepflanzt hatte. Neben den heute fast hundertjährigen Baumriesen, deren lange, bis auf den Erdboden reichende Äste den Fangarmen eines Polypen ähneln, gibt es in diesem Vorgarten auch immer noch eine kleine gemauerte Ziegelstein-Treppe mit zwei Stufen, die aus der NS-Zeit stammt. Wie man mir erzählte, hatte von hier aus der damalige Direktor der Sachsenwaldschule seinem Kollegium jeden Morgen den Fahnenappell abgenommen. Davor bzw. hinter der Treppe standen während meiner Schulzeit zwei lange weiße Fahnenmasten, an denen Hausmeister Behn seit 1945, wenn es der Anlass erforderte, andere Fahnen als die Hakenkreuzfahne hochzog. Behn war ein herzensguter und geduldiger Mann, der leider ein Glasauge hatte – ich weiß nicht, warum.
Auf der Rückseite der Sachsenwaldschule, also zu ihrem Schulhof hin, gab es 1950 nur die sog. „Turnhalle“ mit ihrem Laubengang und dem kleinen Brunnen an ihrer Außenseite. Der sog. „Südflügel“ wurde erst einige Jahre später erbaut – ab der Mittelstufe war meine Klasse dort untergebracht. Die übrigen Gebäude entstanden noch viel später, und Cafeteria oder Mensen waren zu meiner Zeit in der Sachsenwaldschule unbekannt. Unterhalb des Direktorenzimmers gab es lediglich einen sog. „Milchkeller“, wo es in der „schlechten Zeit“ zeitweilig Milch für unterernährte Kinder gab. Die Rückseite des Hauptgebäudes war unbebaut, so dass man von dort aus einen vollkommen freien Blick nach Westen hatte – erst über den Schulhof, dick, grau und grob mit einer Art Grawwel bestreut, und dann auch noch über den sog. „Sportplatz“ hinweg, dessen Benutzung sich die Schule mit der TSV Reinbek. teilte. Das sandige Spielfeld war nur mehr oder weniger festgestampft, so dass es sich bei Regen oder Schnee in Schlamm verwandelte. An seinen Rändern befanden sich einige durch weiße Kalkstreifen flüchtig markierte Laufbahnen und eine mehr oder weniger „wilde“ Sandgrube für Weit- und Hochsprung. Das war alles. Das Klinkerhäuschen am Südende gehörte der TSV Reinbek und wurde von der Schule nicht benutzt. Sportgelände und Schulhof waren durch eine niedrige Buchenhecke voneinander getrennt.
Direktor der Sachsenwaldschule war damals Willenberg (seinen Vornamen erinnere ich nicht mehr). Sein unmittelbarer Vorgänger war Dr. Rudolf Stienen gewesen, ein gebürtiger Westfale des Jahrganges 1890. Ihn hatten die Engländer 1945 abgesetzt und verhaftet – der genaue Grund ist mir nicht bekannt. Vermutlich geschah es im Zuge des „automatic arrest“, unter den alle Deutschen fielen, die während der NS-Zeit in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft leitende Funktionen eingenommen hatten. Stienen war der Sohn eines Richters. Er wurde 1890 in Meschede/Sauerland geboren, erlitt als Teilnehmer am Ersten Weltkrieg einen Nierendurchschuss und übernahm die Leitung der Sachsenwaldschule schon 1926, also nur zwei Jahre nach deren Einweihung. Da Stienen für den Einsatz als Soldat schon zu alt war, setzten ihn die Behörden während des Zweiten Weltkrieges als „Luftschutzkoordinator“ der Gemeinde Reinbek und Umgebung sowie als Schulungsleiter für Brandbombenschutz ein. Wie das übrige Kollegium gehörte auch Stienen der NSDAP an. Ich hatte ihn 1950 in Mathe und Physik, nicht gerade meine Lieblingsfächer. Dennoch erinnere ich mich gern an den alten Herren mit Anzug, Weste und kahlem Kopf. Denn Stienen war ein grundgütiger Mann, der mich trotz schwacher Leistungen mit Nachsicht behandelte. Wenn er zornig wurde, lief sein Gesicht allerdings leicht rot an. Nachdem man ihn abgesetzt hatte, musste Stienen mit Frau und drei Söhnen das linke Flügelgebäude der Sachsenwaldschule räumen, das dem jeweiligen Direktor noch auf viele Jahrzehnte hinaus als Dienstwohnung diente. Stienen starb 1967 an einem Schlaganfall.
Auch an seinen Nachfolger Willenberg habe ich gute Erinnerungen. Woher er stammte und an welchem Gymnasium er vorher gewesen war, weiß ich nicht mehr. Ebenso wie mein Vater gehörte Willenberg dem Sondershäuser Verband an, einer nichtschlagenden studentischen Verbindung, die vor allem der Sangeskunst zugetan war. Die beiden Männer verband also eine Freundschaft, was sicher z.T. erklären kann, dass mir an der Sachsenwaldschule die eine oder andere Neuerung gelang. Willenberg war ein lang aufgeschossener schlanker Herr, ebenfalls stets mit Weste und einem grauen Anzug bekleidet. Für mich verkörperte er den Prototyp des preußischen Beamten. Willenberg wirkte ein wenig trocken und unnahbar, war aber ganz nett, wenn man mit ihm unter vier Augen sprach, was allerdings nur sehr selten und nach Voranmeldung vorkam. Wenn es einen entsprechenden Anlass gab, erschien manchmal sogar ein etwas säuerlich wirkendes Lächeln auf seinem sonst eher ernsten Gesicht.
Willenberg hatte an die 800 Schülerinnen und Schüler und ein Kollegium von ca. 30 bis 40 Lehrerinnen und Lehrern zu verwalten, für damalige Verhältnisse ein sehr großer Betrieb. Außer aus Reinbek kamen die Schülerinnen und Schüler mit dem Rad oder per Dampfzug (!) aus den umliegenden Gemeinden, weil es weder in Schwarzenbek noch in Glinde schon ein weiteres Gymnasium gab. Das nächste lag in HH- Bergedorf und wurde von denjenigen, die mit der SOS aus welchen Gründen auch immer unzufrieden waren, als „Fluchtburg“ benutzt. Wenn ich mich im Einzelnen nicht irre, gliederte sich die SOS während der 1950er Jahre in Unterstufe (Sexta, Quinta, Quarta), Mittelstufe (Unter-, Obertertia, Untersekunda) und Oberstufe (Unter-, Oberprima). Diese lateinischen Bezeichnungen wurden auch von uns Schülerinnen und Schülern benutzt, ohne dass wir es als irgendwie „komisch“ empfanden. In der Oberstufe teilte sich das Ganze in einen sprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig. Als Fremdsprachen wurden Lateinisch, Englisch und Französisch oder Spanisch unterrichtet. Außerdem gab es Arbeitsgruppen wie z.B. eine Theater AG, an der die Schülerschaft ebenso wie einzelne Lehrer mitwirkten. So trat z.B. Dr. Hoeppner im Sommernachtstraum von Shakespeare einmal in einem weißen wadenlangen Nachthemd auf, ein Anblick, so ungewöhnlich, dass er sich mir tief eingeprägt hat. Die einzelnen a-, b- und c- Klassen blieben abzüglich derjenigen, die mit mittlerer Reife abgingen, bis zum Abitur zusammen. So kam es, dass z.B. meine „O I a“ zuletzt nur noch 14 Köpfe zählte, was unseren bis heute starken Zusammenhalt ebenfalls erklärt. Unsere mündliche Abi-Prüfung legten wir durchschnittlich etwa 18- jährigen Jungen im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte ab.
Das Kollegium bestand durchweg aus etwas älteren Damen und Herren, die ebenfalls stets standesgemäß gekleidet waren. Nur die Sportlehrerinnen und -lehrer erschienen an den Tagen, an dem sie entsprechenden Unterricht gaben, in dunkelblauen Trainingsanzügen der Marke Bleyle. Ganz gleich, um
welches Fach es sich gerade handelte, alle Lehrkräfte legten im Unterricht relativ strenge Maßstäbe an unser Können, unseren Fleiß und an unsere Disziplin an. Das Sachsenwaldgymnasium galt nämlich landesweit als eine Art „Elite-Schule“, und dieser Ruf sollte offenbar möglichst lange erhalten bleiben. Schülerinnen und Schüler redeten die Lehrerinnen und Lehrer stets mit ihren akademischen Titeln an, also z.B.: „Herr Doktor sowieso“. Eine „Frau Dr. sowieso“ gab es am Sachsenwaldgymnasium nur mit einer einzigen Ausnahme, auf die ich später zurückkommen werde. Das Lehrerzimmer befand sich unmittelbar neben Dienstzimmer und Vorzimmer des Direktors. In letzterem amtierte jahre-, wenn nicht jahrzehntelang ein „Fräulein“ Wiese, unsere einzige Schulsekretärin. Alle diese Räume gingen ebenso wie die dazu gehörigen Toiletten von der Diele unmittelbar hinter dem Haupteingang ab. Wegen der feinen gelblichen Bodenfliesen aus poliertem Solnhofener Schiefer, wegen des hübschen Brunnens in der Nische und wegen des gedämpften Lichtes, das durch die Buntglasfenster fiel, hielt ich mich hier recht gerne auf, solange es nicht aus disziplinären oder wegen mangelhafter Schulnoten sein musste. Denn in der Diele stand auch die „Arme-Sünder-Bank“, auf der man dann mit seinen Erziehungsberechtigten Platz nehmen musste.
Auf eine allgemeine Charakterisierung der Lehrerschaft verzichte ich hier, weil alles andere nur zu Missverständnissen und Ungerechtigkeiten führen kann. Ich zähle lediglich die Lehrkräfte auf, die mir persönlich viel bedeutet haben. Das waren mein Deutschlehrer Dr. Theo Vater sowie meine beiden Englischlehrer Dr. Schoknecht und Dr. Schlegel. Von diesen drei Persönlichkeiten hatte wohl lediglich Vater als Soldat am Zweiten Weltkrieg teilgenommen; er erzählte uns nur ein einziges Mal davon, an einem Nachmittag, nach dem Unterricht. Es war eine aufregende Geschichte, weil Vater, von den Engländern über dem Ärmelkanal abgeschossen, nur knapp mit dem Leben davongekommen war. In „Turnen“ und später in Philosophie hatten wir Dr. Lau, der uns ebenfalls vom Krieg erzählte und zwar mit Bedauern, weil er zur erfolgreichen Verteidigung einer wichtigen Brücke, die ihm das Ritterkreuz einbrachte, eine seiner Meinung nach zu hohe Anzahl seiner ihm selbst unterstellten Soldaten verloren hatte. Weil er unter dieser Erfahrung noch immer litt, war Lau für mich eine tragische Figur. Schoknecht und Schlegel, die beiden anderen hier erwähnten Lehrer, waren wohl schon zu alt gewesen, als der Zweite Weltkrieg begann. In Form einer tiefen Delle von der Größe eines Daumennagels trug Schoknecht jedoch noch die Spuren eines Kopfschusses an seiner Stirn, den er wohl schon im Ersten Weltkrieg erlitten hatte. Danach, wie es dazu gekommen war, haben wir ihn aus Respekt nie befragt.
Rückblickend will es mir so erscheinen, als sei das Durchschnittsalter der Lehrerschaft durch die Kriegsverluste etwas erhöht gewesen. Jedenfalls waren wir Schüler über jeden jüngeren Lehrer froh, der an unsere Schule kam, auch wenn wir nicht bei ihm Unterricht hatten. In diesem Zusammenhang sind die Herren Dr. Bielfeld, Dr. Hoeppner (der spätere langjähriger Direktor), Dr. Hoffmann und Lüneburg sowie das reizende „Fräulein“ Pjotr zu nennen, „die neue Turnlehrerin“. Von ihr wurde schon damals die nette Geschichte erzählt, sie sei an ihrem ersten Tag, den sie an unserer Schule verbrachte, von Willenberg oder einem ihrer männlichen Kollegen erstaunt gefragt worden: „Was willst Du denn hier?“, als sie das Lehrerzimmer betrat, weil sie noch so unglaublich jung aussah. Wir Jungen und die meisten Mädchen schwärmten für Fräulein Pjotr, während wir über die älteren Lehrerinnen wegen mancher Eigenheiten, die sie hatten, hinter vorgehaltener Hand unsere Witze machten. Aber auch unter den Lehrern gab es das eine oder andere Unikum wie z.B. den alten Herrn Schreck, der bisweilen nicht anstand, eine seiner Schülerinnen in der Pause zu sich nach Hause zu entsenden, um das Butterbrot abzuholen, das er vergessen hatte. Apropos Butterbrot: Wer nichts zu Essen mitgebracht hatte, versuchte in der großen Paus zu „Karlchen Beckmann“ am Rosenplatz zu gelangen, wo es außer Rauchwaren auch allerlei Süßes gab. Ob die beiden in diesem Text erwähnten Beckmanns miteinander verwandt waren, ist mir nicht bekannt.
Wegen der Bedeutung, die sie entweder für mich persönlich oder ganz allgemein für unsere Schule hatten, möchte ich hier noch weitere Lehrerpersönlichkeiten bei Namen nennen – als erstes den gütigen, rundlichen, weißhaarigen Herrn Frahm, der uns in die lateinische Sprache einführte. Er starb plötzlich und für unsere Begriffe zu früh. An seiner Beerdigung auf dem benachbarten Friedhof Klosterbergen nahm mit allen Lehrern und allen Schülern die ganze Sachsenwaldschule teil. Denkwürdig sind auch die beiden Ehepaare Seeck und Walter, nach meiner Einschätzung die einzigen Ehepaare, die es damals an unserer „Penne“ gab. Seecks unterrichteten sämtliche Klassen in Kunst und Werken, und zwar im sog. „Zeichensaal“ oben unter dem Dach. Aber wir haben gelegentlich auch en plein air gemalt, und zwar am Bauernhof Soltau, den es damals noch, strohgedeckt, gegenüber unserer Schule gab. Befanden sich die beiden Eheleute zufällig einmal zeitgleich in einem Raum, konnte es geschehen, dass sie ihm zurief: „Herr Seeck, wirf‘ mir doch bitte mal die Kreide rüber!“ Das heißt, aus Gründen des Anstandes und zur Aufrechterhaltung der Disziplin vermied es Frau Seeck stets, ihren Mann vor uns Schülern mit seinem schönen Vornamen „Meinhard“ anzureden.
Das Ehepaar Walter war für das musikalische Geschehen zuständig – für den Schulchor und das Schulorchester, die es im Gegensatz zu heute nur je einmal gab. Durch meine Zugehörigkeit zu beiden Ensembles lernte ich Walter sehr schätzen, weil er immer so frisch und motivierend war. Denn die Übungsstunden und Proben fanden entweder schon vor Unterrichtsbeginn, also vor 7.15 Uhr morgens, oder nach Schulschluss, also nach 13.20 Uhr statt. Morgens war man meistens noch müde, und mittags wollte man möglichst schnell nach Hause, weil der Magen knurrte. Die Konzerte mit Orchester und Chor fanden in unserer schönen Aula statt, deren weiß getünchte Wände damals noch großformatige al- fresco-Gemälde eines Malers bedeckten, dessen Name mir leider entfallen ist. Diese Ereignisse entschädigten alle Mitwirkenden für die Entbehrungen und Mühen, die sie im Laufe der Vorbereitungen erlitten bzw. auf sich genommen hatten. Unsere Zuhörer saßen auf langen Bänken, die einen zartgrünen Anstrich hatten. In unserer Aula gab es übrigens auch eine Orgel auf der Bühne hinter einem Prospekt, der aus weiß-grünen Rhomben bestand. Sie wurde von einer älteren Mitschülerin namens Lore Baumann oder von Walter selbst bespielt, wenn es vor Schulbeginn die tägliche Morgenandacht gab.
Ganz besonders denkwürdig ist mir über all‘ die Jahre Fritz Beckmann geblieben, den ich von der Mittel- bis zur Oberstufe als Klassenlehrer hatte. Beckman (mit einem gedehnten „e“ – darauf legte er größten Wert) stammte aus der Nachbargemeinde Schönningstedt, die damals noch lange nicht Teil der Stadt Reinbek war. Aufrecht und pünktlich wie ein Soldat ging Beckmann am Morgen eines jeden Schultages, ganz gleich ob es regnete, schneite oder die Sonne schien, die ca. drei Kilometer von seinem Haus zur Schule und mittags wieder zurück. Wenn schlechtes Wetter war, trug er einen grauen wadenlangen „Kleppermantel“, der aus einer Art Gummi bestand. Beckmann unterrichtete uns in Mathe und Biologie. Obwohl ein relativ nüchterner Typ und nicht besonders redselig, verstand er es im Laufe der Jahre, aus unserer Klasse eine echte Gemeinschaft zu formen, die sich bis heute regelmäßig trifft (sofern wir noch am Leben sind). Unvergessen die erste Klassenfahrt, die uns nach Behrensdorf an die Ostsee führte – und zwar auf einem Bauernhof, wo wir nachts oben auf dem Heuboden schliefen, die Jungen rechts, die Mädchen links oder umgekehrt, jedenfalls streng nach Geschlechtern getrennt. Deshalb haben wir uns aus dieser Trennung nachts im Dunkeln erst recht einen Jux gemacht. Die letzte Klassenfahrt führte uns übrigens weder nach Rom noch sonst wohin über die deutschen Grenzen hinaus, sondern in den Schwarzwald, wo wir alle gemeinsam den Feldberg bestiegen…
Obwohl Mathematik, wie gesagt, nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern zählte, erinnere ich mich auch gern an den Lehrer, den wir in der Oberstufe in diesem Fach bis zum Abitur hatten. Er hieß Ernst Freudenthal – nomen erat non omen, um es einmal auf Lateinisch zu sagen. Der markant, weil etwas füllig wirkende Mann beeindruckte uns schon dadurch, dass er an seinem ersten Tag als unser künftiger Lehrer mit dem Motorrad kam – einer „BMW 500“, das größte und schwerste Motorrad, das es damals in ganz Deutschland gab. Mit einem extra großen Bogen kurvte er in unseren Schulhof hinein – als wollte er allen zeigen: Hier bin ich! Als Freudenthal gemächlich von seiner Maschine abstieg, sah ich zu meinem Erstaunen, dass er eine kurzbeinige Lederhose trug. Weder das eine noch das andere wäre einem unserer anderen Lehrer eingefallen! Im Grunde war Ernst Freudenthal ein Original – als glänzender Mathematiker hätte ihm eigentlich eine Professur an einer Universität gebührt. Der Krieg hatte ihm jedoch einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Als wir uns dem Abitur näherten, bot uns Freudenthal ebenso wie Beckmann übrigens das „Du“ an, was sonst keiner der übrigen Lehrer tat.
Abschließend auch noch ein paar Worte zu Pastor Reinhard Schröder und zu unserem zeitweiligen Geschichtslehrer Dr. H. – bei seinem vollen Namen will ich ihn hier aus den weiter unten ersichtlichen Gründen nicht nennen. Schröder war Pastor an der Wohltorfer Heilig-Geist-Kirche, hatte aber daneben an unserer Schule auch Pflichten als Religionslehrer übernommen. Da ich bei ihm mit anderen aus unserer Klasse gleichzeitig den Konfirmandenunterricht besuchte, ergab sich die sehr fruchtbringende Situation, dass wir als Gymnasiasten das intellektuell verarbeiten konnten, was wir als Konfirmanden in Glaubensfragen nicht verstanden. Wir konnten Schröder buchstäblich alles fragen und ihn in endlose Debatten verwickeln – er gab immer redlich Auskunft „von Mann zu Mann“, sogar über eigene Glaubenszweifel, wie wir sie selber hatten. Die krasse Gegenfigur zu Schröder war Dr. H., dessen Vorname ich nicht ohne Grund vergessen habe.
Geschichte gehörte wie Deutsch zu meinen Lieblingsfächern, in denen ich stets sehr gute Noten hatte. Als wir uns im Unterricht dem Ersten Weltkrieg näherten, ergab sich jedoch zwischen H. und mir die ans Absurde grenzende Situation, dass H. den Unterschied zwischen „Grund“ und „Anlass“ nicht anerkennen wollte. Wieder und wieder versuchte ich ihm klar zu machen, der Anlass sei das Attentat von Sarajewo gewesen, der Grund aber die Gegensätze zwischen den verschiedenen Mächten. Aber Dr. H. bewegte sich nicht. Er ließ es auf eine Machtprobe ankommen. Mit durchgedrücktem Rücken stand er unmittelbar vor mir, stützte sich mit geballten Fäusten auf die beiden Pulte neben ihm ab und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen wortlos an, während ich wie mit Engelszungen auf ihn einredete. Das Ganze endete damit, dass Dr. H. meine Leistungen im Zeugnis schrittweise von „1“ auf „4“ herabstufte, so dass ich im Abiturzeugnis nur noch eine „2“ bekam, nachdem ich mich freiwillig zu einer mündlichen Prüfung gemeldet hatte, die dann bei einem anderen Geschichtslehrer stattfand.
Wir alle, Eltern und Schüler, so denke ich, waren damals noch daran gewöhnt, solche
„Schicksalsschläge“ hinzunehmen, ohne gleich einen Anwalt zu bemühen. Obwohl wir bereits seit zehn Jahren in einer Demokratie lebten, ließ der Obrigkeitsstaat immer noch grüßen. Übrigens haben wir uns im Unterricht weder mit dem Dritten Reich noch mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, auch in der ansonsten sehr guten „Gegenwartskunde“ bei Dr. Bielfeld nicht. Unsere Geschichte hörte 1914/19 auf. Deshalb war es auch eine Aufgabe von uns Schülern, die erforderliche Verbindung zur Gegenwart herzustellen, und das haben einige von uns auch mit Nachdruck und Erfolg getan. Gemeinsam mit meinem Freund und Klassenkameraden Manfred Piehl gründete ich z.B. die Schülerzeitung „Das Waldhorn“ (von wegen „Sachsenwald“!), und wenig später fand sich auch das aus bis zu sieben Mitschülern bestehende „High School Jazzteam“ zusammen, in dem Manfred das Schlagzeug und ich den Kontrabass bediente. Das Instrument durfte ich mir großzügigerweise von der Schule entleihen. Wir spielten den damals populären Dixieland-Jazz.
Ausgesprochen oder unausgesprochen war die Schülerzeitung ebenso wie die Jazz-Band von uns Gründern als dezidiert politische Projekte gemeint. Wir wollten damit erreichen, dass mit der Demokratie auch der amerikanische Lebensstil ein wenig Einzug in unsere altehrwürdige Schule hielt, ohne diese gleich zu entweihen. Noch heute rechne ich es Willenberg hoch an, dass er uns das ermöglichte, obwohl es ja schon die gesetzlich geregelte Schülermitverwaltung gab, die uns allerdings als allzu „obrigkeitshörig“ galt. Das war ein großer Vertrauensbeweis! Als Bedingung hatten wir lediglich einen „Vertrauenslehrer“ zu akzeptieren, den uns der Direktor mit auf den Weg gab. Erst handelte es sich mehrere Jahre lang um Dr. Dorothea Koeppen, später um Lüneburg. Die beiden gaben uns stets den Freiraum, den wir für unsere Arbeit brauchten, und wir haben ihren Rat, wenn es darauf ankam, meistens auch als wohl begründet akzeptiert.
Anlässlich eines der alljährlich stattfindenden Sportfeste gelang es übrigens auch, die Firma Coca Cola dafür zu gewinnen, uns nicht nur mit ihrem Getränk zu versorgen, sondern auch mit einer Lautsprecheranlage, so dass sich die Aufsicht führenden Lehrer nicht länger die Lunge aus dem Hals schreien mussten. (Unser Star war damals übrigens Jürgen Theissen, der die 100 m in 11,0 sek. lief!). Alle diese Neuerungen wurden von Direktor Willenberg und seinem Kollegium zwar manchmal etwas zögernd, aber im Grunde doch als Bereicherung des Schullebens akzeptiert, und „Das Waldhorn“ hat mein Abitur noch einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte überlebt. Unser erster Auftritt als Jazzband glich sogar einem Triumph. Denn am ersten Abend war die Aula bis auf den letzten Platz gefüllt, ohne dass eine Bank zu Bruch ging oder irgendein anderer Schaden entstand, so dass wir unser Konzert am nächsten Abend wiederholen durften.
Zur allgemeinen Belustigung fand nach dem Sport- auch stets das sommerliche Schulfest statt, und zwar in jenem Wentorfer „Restaurant Jägersbronnen“ auf dem Weg nach Bergedorf, das es schon lange nicht mehr gibt. Da es sich um ein weiträumiges Gartenlokal unter schattigen Bäumen handelte, wurden draußen allerlei Wettkämpfe wie Sackhüpfen, Dosenwerfen und Eierlaufen veranstaltet, den unteren Klassenstufen angepasst. Und drinnen, in den Sälen, wurde dann von den Älteren zur Live-Music ausgiebig geschwooft – für uns Knaben eine willkommene Möglichkeit, den Mädchen näher zu kommen! Das Problem war natürlich immer der Alkohol, nicht nur bei uns Schülern, sondern auch bei dem einen oder anderen Lehrer. Selbst Willenberg sprach dem Bier so gern und ausgiebig, dass er den Saal manchmal unter Begleitung etwas früher verlassen musste. Mit dem Widerspruch zwischen Moral und tatsächlichem Verhalten räumte der junge Deutsch- und Geschichtslehrer Dr. Hoffmann durch lästerliche Reden gründlich auf, was ihm unsere einhellige Bewunderung eintrug.
Neben den Schulfesten fand alljährlich im Winter auch der „Unterprimaball“ in der Aula und im benachbarten Musiksaal statt, die zu diesem Zweck ausgeräumt bzw. mit Tischen und Stühlen ausgestattet wurden. Außer einem Mal, als ein kleines, aus Schülern bestehendes Trio mit Swing aufspielte, kam die Musik dann zwar aus Kostengründen immer vom Band. Aber trotzdem waren diese Feste sehr nett. Denn erstens konnten wir Schüler uns bei dieser Gelegenheit selbst mit Alkohol unserer Wahl versorgen – Cola mir Rum oder Gin mit Frisco waren der große Hit – und zweitens konnte sich der eine oder andere mit seiner Liebsten ungestört in die umliegenden Flure und Klassenräume verkrümeln, weil dort ja allesdunkel war. Nein, wir Schülerinnen und Schüler der 1950er Jahre waren beileibe keine „Kinder von Traurigkeit“. Wir hatten zwar noch kein Internet, keine PCs, keine Smartphones und was es heute an digitalem Schnickschnack gibt – bei uns zu Hause waren sogar noch diese schwarzen Telefone aus Bakelit mit Drehscheibe in Gebrauch. Aber wir hatten damals ebenfalls unseren Spaß.
Den Vogel bei diesen Lustbarkeiten schoss meine Klasse jedoch in der Unterprima ab. Eines Tages erfuhren wir, unser Klassenraum im Südflügel müsse demnächst neu gestrichen werden. Daraufhin trafen wir uns am Nachmittag, um die Renovierung gründlich vorzubereiten. Das heißt, wir statteten die Wände und die Wandtafel mit allerlei Sinnsprüchen und Strichzeichnungen aus. Wenn ich heute daran denke, sehe ich immer noch meinen baumlangen Klassenkameraden Horst, wie er, auf einem der hinteren Stühle stehend, mit schwarzer Farbe in großen dicken Lettern „EXISTENZIALISTENKNEIPE“ auf die Rückwand schrieb. Am nächsten Morgen war unsere Graffiti-Aktion natürlich Schulgespräch. Ein Lehrer nach dem anderen kam vorbei, öffnete die inzwischen abgeschlossene Tür, guckte kurz hinein, und machte die Tür wieder hinter sich zu. Dabei konnte der eine oder andere ein verstohlenes Lächeln nicht ganz unterdrücken.
Trotzdem wurden wir für unsere kollektive Missetat auf Beschluss der Lehrerkonferenz mit dem Verbot unseres nächsten Klassenfestes bestraft. An dessen Stelle wurde ein „Wandertag“ angeordnet. Und da geschah das kleine Wunder: Nachdem er uns empfohlen hatte, vorsichtshalber noch ein Paar Ersatzschuhe und vielleicht auch noch eine etwas bessere Jacke oder ein Kleid zum Wechseln mitzunehmen, sollte es unterwegs in Strömen regnen, legte „Fritze“ Beckmann unsere Route so, dass wie nachmittags wie zufällig beim Forsthaus Friedrichsruh vorbeikamen. Rein zufällig war dort für uns auch eine hübsche Kaffeetafel gedeckt, an der wir beglückt Platz nehmen durften. So fand doch noch unser Klassenfest statt, ohne dass sich Beckmann dem Konferenzbeschluss offen widersetzt hätte.