Im zweiten Teil von Erna Martens Erinnerungen an die Schulzeit erzählt sie von Frau Krögers Geschichtsunterricht und von ihrem Erleben des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71, das durch Gurkenlaternen getrübt worden ist.
Neben ihm [Herrn Dr. Kröger, dem Schulleiter] waltete Frau Dr. Kröger ihrer Ämter in Haus und Schule. Ist es nicht ein wenig viel zugemutet? Ich glaube, daß dieser Frau niemals auch nur der Gedanke gekommen ist. Da sie mich in meinem neunten Lernjahre voll Güte ein ganzes Jahr zu sich in ihr Haus nahm, habe ich sie wohl auf beiden Gebieten mit den verschiedensten „Waffen pauken“ sehen. Beste Zensur! Wie straff zusammengefaßt waren ihre Geschichtsdiktate – ein Geschichtslesebuch besaßen wir nicht! Wie übersichtlich Gliederung und Zusammenfassung der Geschichte der großen europäischen Länder. (Ob England in ihrem persönlichen Leben eine große Rolle gespielt hatte? Einerlei, England schnitt bei ihr sehr schlecht ab. Ich enthalte mich jeder Kritik an unserem germanischen Vetter ebenso wie an meiner verehrten Lehrerin. Sie pflegte sehr sachlich zu sein.) Die vielen Geschichtshefte haben übrigens meiner Schwester, die deutsche Lehrerin in der Türkei war, noch dort bei ihrem Unterricht gedient. Da sie von Saloniki aus 1917 in französische Gefangenschaft kam, sind sie natürlich verlorengegangen.
Die „Alte Geographie“ mußten wir gründlich und straff lernen; wie oft sind wir den Kriegszügen Alexanders, denen der Perser, der Römer und der germanischen Völker auf unseren Karten gefolgt! Wie begeistert nahmen wir die Mythologie unserer Urväter auf, wie gern auch die der Griechen und Römer. Und jedes Volk war und blieb uns auf diese Weise eine lebendige Gesamtheit. Vielleicht haben wir auf Grund dieses Unterrichts den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 in Verbindung mit der Schule besonders, wenigstens für mein junges Alter, mit besonderem Verständnis erlebt. Wir wurden angehalten zu helfen: von Hause hatten wir altes Leinen zu erbitten, im Handarbeitsunterricht schnitten wir es in lauter gleich breite Streifen und zupften die Fäden aus. „Scharpie“ wurde damals als Verbandstoff in ungeheuren Mengen verbraucht.
Man erzog uns aber auch dazu, an den großen Erfolgen stolz Anteil zu nehmen: bei jeder Siegesnachricht wurde der Unterricht geschlossen und wir mußten die schnell herausgegebenen Maueranschläge lesen. Stolz wie kleine Schneekönige zogen wir dann, die „Wacht am Rhein“ singend, heim. Abends machte die Schule dann wohl einen Laternenzug, alle Kinder hatten farbenprächtige Papierlaternen – nur die Carolinenhöfer Kinder bekamen die nicht. Wir mußten uns Gurken aus dem Garten holen, sie sehr sorgfältig aushöhlen und in die Schalen mit einem scharfen Messer Namen oder Buchstaben schnitzen. Das hatte gewiß manches für sich; aber wir wurden geneckt und verlacht von den übrigen; und ich weiß noch heute sehr wohl, daß mir der Sieg, den wir feierten, nach dieser Erfahrung etwas weniger groß und schön erschien. Kinder sind eben grausam. Aber durchs Vaterhaus wehte ein stark vaterländischer Wind, und der wird dann das trübe kleine Erleben sicher bald ausgelöscht haben.
Erna Martens: Erinnerungen an die Schulzeit. In: Festschrift zur 700-Jahrfeier der Gemeinde Reinbek. 1238-1938. Reinbek 1938, S. 162-169.