Erna Martens erzählt von einer besonderen Einrichtung der Schule des 19. Jahrhunderts.
Von einer einzigartigen Einrichtung muß ich noch erzählen: an jedem Wochenschluß hatten wir größeren Mädchen als letzte eine „Überwindungsstunde“. Sie wurde von uns wie eine Art Religionsstunde hingenommen. Die Stimmung war dementsprechend ernst und wir fanden an der ganzen Sache nichts Außergewöhnliches. Frau Dr. Kröger kam mit einem größeren Notizbuch und einem Kasten voller Oblaten. In dem Buch waren zwei Listen: einmal unsere Namen und dann eine Anzahl Fragen, zum Beispiel: Bist du sofort aufgestanden, wenn du geweckt wurdest? Gingst du abends ins Bett, sobald es dir gesagt wurde? Hast du bei Tisch alles gegessen, auch wenn du es nicht mochtest? Hast du immer die Wahrheit gesagt? Hast du niemals genascht? Warst du immer gehorsam? Und anderes mehr. Jede dieser Fragen wurde an jede der Schülerinnen gerichtet, und sie mußte mit Ja oder Nein beantwortet werden. Die Ergebnisse wurden durch Zeichen im Notizblock verzeichnet. Waren sie zu absoluter Befriedigung ausgefallen, so gab es Belohnungen: Oblaten. Auch ein einzelnes gutes Resultat wurde eventuell lobend anerkannt und belohnt. Allmählich wurden die schwachen Seiten der einzelnen bekannt, und sie wurden bei Ermahnung wie bei Lob besonders betont und besprochen. – Ein paar einleitende Worte zu Anfang der Stunde sollten uns zu größter Wahrhaftigkeit ermuntern, am Schlusse wurden wir auf größte Selbstbeachtung in der nächsten Woche hingewiesen. – Es lag meines Erachtens dieser Einrichtung die Absicht zugrunde, uns zu Wächtern über unser eigenes Tun und Lassen zu erziehen, die gewöhnt waren, sich selbst aufmerksam zu beobachten und wahrhaftig zu beurteilen. Es ist gewiß in der Theorie eine gute Sache – in der Praxis habe ich große Gefahren gesehen und sie mir nie zu eigen gemacht.
Erna Martens: Erinnerungen an die Schulzeit. In: Festschrift zur 700-Jahrfeier der Gemeinde Reinbek. 1238-1938. Reinbek 1938, S. 162-169.