Von gescheiterten Fluchtversuchen, beklemmenden Verhältnissen, der schwierigen Nahrungsmittelbeschaffung und vielem mehr. Hannelore Tödter, geboren 1938, erzählt:
„Es war 1945, als die Russen in Belgard/Pommern eintrafen. An diesem Tag – ich weiß den genauen Termin nicht mehr – saßen wir zusammen mit einer ganzen Gruppe von Menschen in einem kellerähnlichen Raum in einer Gärtnerei. Wir hörten die Schüsse rundherum und als wir den Raum verließen, merkten wir, dass Soldaten in der Stadt waren. Es waren wohl keine allzu großen Schäden entstanden, jedenfalls was wir auf den ersten Blick sehen konnten. Wir gingen zurück in das Haus meiner Großeltern.
Mein Vater war im Krieg gefallen und wir lebten deshalb dort. Was dann in den nächsten Tagen vor sich ging, war nicht allzu schön. Russische Soldaten kamen in das Haus. Da dort im Hause eine Räucherkammer war, versteckten meine Mutter, eine Bekannte und wir uns in diesem ziemlich engen Raum. Man kann sich die Angst der Frauen vorstellen, denn man hatte inzwischen ja auch von mancherlei Grausamkeiten gehört.
An manchen Tagen, wenn die Soldaten ganz plötzlich vor der Tür standen, setzten sich meine Mutter in einen Sessel und wir Kinder drum herum. Die Soldaten suchten besonders junge, blühend aussehende Frauen, also machten sich die Frauen alt und verhärmt.
Trotz allem musste meine Mutter arbeiten. Da sie nun mal zwei Kinder hatte, die sie tagsüber beaufsichtigen musste, ging das nur nachts. Sie war auf den Bahnhof eingeteilt zum Verladen von Klavieren, Möbeln und ähnlichem. Weg ging alles, was die Russen meinten in ihre Heimat schicken zu wollen.
Nach ungefähr einem Jahr versuchten wir, mit einem Auto aus der Stadt zu kommen, was leider misslang. Wir wurden, als wir nachts zum vereinbarten Treffpunkt gehen wollten, von den Soldaten geschnappt und mit auf die Wache genommen. Dort wurden uns sämtliche Gegenstände, die wir mitnehmen wollten weggenommen und wir wurden wieder nach Hause geschickt. Das Auto fuhr ohne uns los.
Trotzdem kamen wir – es muss um Ostern 1946 herum gewesen sein – endlich mit einem Autotreck nach Stettin in ein Lager. Schön war es nicht, aber wir als Kinder merkten von der Angst und den Schrecken der Mütter wenig. Meine Mutter hatte sogar noch irgendwo her ein paar Süßigkeiten erstanden. Mit dem Zug – die Sitze wurden mit den Rucksäcken ausgefüllt – ging es dann Richtung Norddeutschland. Wir sollten zuerst in Ahrensburg oder Segeberg untergebracht werden, kamen aber schließendlich in Reinbek an. Dort brachte man uns in das Gasthaus ‘Zum Forstplatz’ [Ecke Hamburger Straße/Glinder Weg]
Mit vielen Menschen lagen wir auf dem Fußboden in dem großen Saal. Nach ein paar Tagen wurden wir aufgeteilt und kamen zuerst in ein Haus ans Ende der Bahnsenallee. Doch auch dort blieben wir nur ein paar Tage, denn diese Familie musste aus politischen Gründen keine Flüchtlinge aufnehmen. Also kamen wir, wie noch ein paar andere Familien, in der Bahnsenallee 18 unter. In diesem Hause lebten zwei Reinbeker Familien, die nun, nachdem die Flüchtlinge angeströmt kamen, viele ihrer Zimmer räumen mussten.
In diesem Hause lebten fortan acht Familien. Man kann sich vorstellen, wie eng es in den Zimmern war, wenn dort manchmal vier bis sechs Personen leben mussten. Die Zimmer waren so gut wie nicht eingerichtet. Man gab uns – wir wohnten oben unter dem Dach – schließlich ein Sofa, einen Sessel und einen Tisch. Wenn es Essen gab, dann saß mein Großvater im Sessel, meine Schwester und ich auf der Fensterbank, unsere Mutter stand vor dem Tisch. Ja, und mit dem Schlafen war das auch so eine Sache. Wir hatten ein Zimmer, in dem sich zu einer Dachkammer hin eine Ecke befand. Dort wurde ein Brett vorgestellt, Strohsäcke hinein und mit den vorhandenen Decken konnte man sich zudecken.
Eine meiner Tanten aus Berlin war in unsere Wohnung nahe Berlin gegangen und hatte dort alles das zusamengetragen, was sie nach dem Bombenangriff noch fand. Zum Glück waren das zwei Kopfkissen und Oberbetten. Man kann sich vorstellen, wie glücklich wir darüber waren. Später gab es dann auf Bezugsschein einen Ofen, damit man Kochen konnte. Vorher gingen wir zu einer Baracke im Zentrum von Reinbek (heute sind dort die Arkaden). Dort gab es Essen aus der Großküche, d.h. Brennnesselsuppe usw. Beim Schlachter Böhme stellten sich die Menschen an und wenn man Knochen bekam, oder auch mal ein Stückchen Fleisch, dann wurden diese gehütet wie ein Schatz und auch ein zweites Mal noch mit dem Beil aufgehauen, damit auch das letzte Stückchen Fett herauskam.
Beim Kaufmann Mense gab es auf Marken Mehl, Grieß, Zucker und all die ‘wunderbaren Sachen’, die damals so wertvoll waren. Oftmals machte sich meine Mutter mit dem Rucksack auf den Weg (die Züge waren so voll, dass die Menschen auf den Trittbrettern standen, nur um mitzufahren), um Kartoffeln oder Eier oder Gemüse und wenn man ganz viel Glück hatte, dann Fett und ein Stückchen Speck zu hamstern, damit wir etwas zu essen hatten. Wenn man noch etwas zum Tauschen hatte, dann war man ganz glücklich dran. Schon allein ein Margarinebrot mit Zucker bestreut war ein Traum.
Wir Kinder hatten es irgendwie gut, denn wir konnten mit den vielen anderen Kindern in der Straße spielen. Da gab es Völkerball, Seilspringen, Hallihallo und Herumtoben in den damals noch nicht bebauten Waldstücken.
1946 kam ich dann zusammen mit meiner Schwester in Reinbek in die Schule. Da ich schon einmal in Pommern 1944 in die Schule gekommen war, dann aber bei Kriegsausbruch nicht mehr weiter in die Schule gehen konnte, musste ich hier noch einmal von vorne anfangen, denn das erste Schuljahr war Pflicht. In der Klasse waren Kinder verschiedenen Alters zusammen. Zuerst hatten wir eine Lehrerin, dann einen Lehrer und ab der 3. Klassen unseren tollen Lehrer, den wir bis zum Schulabschluss hatten. Es gab keinen eigenen Ranzen oder Schulmappe für uns Geschwister – nein, wir mussten beide zusammen eine selbstgenähte Tasche benutzen in der eine Schiefertafel, die wir mitgebracht hatten, steckte. Also musste einer für seine Hausaufgaben die eine Seite benutzen, der andere die zweite.
Da mein Vater im Krieg gefallen war, konnte meine Mutter es sich nicht leisten, uns auf eine weiterführende Schule zu geben, denn damals mussten sämtliche Bücher usw. selbst bezahlt werden. Aber ich denke, auch so ist aus uns etwas geworden.
Die Reinbeker Bevölkerung war, so glaube ich, damals nicht glücklich über die Flüchtlinge. Aber wer konnte schon etwas dafür, denn auch wir wären sicherlich lieber in unserer Heimat geblieben. Und so leben wir nun schon 60 Jahre in dieser Stadt und haben uns hier unser Leben aufgebaut.“