Vom „Hexenschuss“, Steineklopfen und Stubbenroden. Im zweiten Teil ihrer Geschichte erzählt Ilse Gierhake von ihrem Vater, der wie so viele Soldaten auch ein dunkles Geheimnis hatte. Mitgeschrieben hat Gisela Hackbarth:
„Im Jahr 1941 war mein Vater als Soldat eingezogen worden. Er war vor Leningrad und in Estland. Zum Schluss war er in Mainz. Als die Amerikaner schon auf die Stadt vorrückten, sollte mein Vater die verbliebenen deutschen Soldaten zu einem neuen Bataillon zusammenstellen. Er bekam einen Hexenschuss. (Nicht wirklich, er wusste ihn glaubhaft vorzuführen, da er schon einmal einen gehabt hatte.) Er wurde jedenfalls krank geschrieben und damit war er frei. Er hat sich als Holzfäller verkleidet und auf den Weg nach Reinbek gemacht, teils zu Fuß, teils per Rad. Manchmal musste er das Rad beiseite legen und sich vor der amerikanischen Besatzungsmacht verstecken. Er hat bei Bauern und in Scheunen übernachtet. Was ich nicht wusste ist, dass mein Vater sich mit einem Kameraden auf den Weg gemacht hatte. Unterwegs kamen Tiefflieger. Sie gingen nebeneinander und sein Kamerad wurde tödlich getroffen. Das war sehr tragisch. Mir ist dieses sehr nahe gegangen, als ich es jetzt von meiner älteren Schwester erfuhr.
Ja, und dann kam Vater eines Nachmittags im Juni 1945 bei Sonnenschein bei uns zu Hause an. Gott sei Dank. Mutter hatte schon große Angst um ihn gehabt, weil sie so lange keine Nachricht bekommen hatte. Sie war mit ihren Sorgen zu Bürgermeister Claußen gegangen. Er hatte versucht, sie zu beruhigen. Er versprach ihr, sollte Vater etwas zugestoßen sein, werde er ihr eine Stelle in einem Kinderheim anbieten. Dorthin könne sie auch ihre vier Kinder mitnehmen. Meine Mutter war ja gelernte Meisterhausfrau und die Leitung eines Kinderheims wäre ein Ausweg in der Not gewesen. Wir beteten jeden Abend zu Gott, er möge unseren Vater beschützen und nach Hause kommen lassen. Am Abend seiner Heimkehr merkten wir plötzlich, dass wir ja nicht mehr um seine Heimkehr beten mussten. Wir waren sehr dankbar.
Als Vater zurückgekehrt war, wurde er zusammen mit 200 anderen Polizeibeamten aus der Polizei in Hamburg entlassen. Er war Parteimitglied gewesen. So war er nun arbeitslos und die Annahme einer anderen Arbeit war ihm verboten. Er hätte sofort in einer Zimmerei in Wentorf anfangen können, aber er durfte nicht. Er und sein Arbeitgeber wären bestraft worden. Vater wurde verpflichtet, in Rothenburgsort Steine zu klopfen.
Vater erzählte meiner Mutter einmal von einem Chirurg, der neben ihm arbeitete. Ihm hätte er am liebsten die Arbeit abgenommen, denn seine Hände würden nachher ganz kaputt sein. In den siebziger Jahren traf ich im Eilbeker Krankenhaus einen Rheumatologen, der sich erinnerte, dass er Leichen bergen musste, während Vater Steine geklopft hat.
Vater wurde fürs Steineklopfen bezahlt. Er hat sich aber auch überlegt: ‘Ewig kannst du diese Arbeit nicht machen, irgendwann sind die Steine aufgearbeitet. Und was dann?’ Er musste sich ja irgendeine Existenz aufbauen. Er durfte nach Feierabend Steine für den eigenen Gebrauch klopfen. Der Bürgermeister schlug ihm nun vor, unter der Leitung unserer Mutter eine Wäscherei aufzubauen. So hat Vater 1945 und 1946 Steine geklopft, auch für sich. Fuhrenweise wurden sie bei uns angeliefert. Vater fing an zu bauen. Er engagierte einen Maurer und mit ihm hat er den Keller hochgezogen. Als der fertig war, kam endlich die Baugenehmigung. Um Kunden zu werben, hatten wir im Keller eine Wäschean- und -abgabestelle für die Firma Alpheis eingerichtet. Wir Kinder trugen die fertige Wäsche mit dem Bollerwagen aus. Zur Führung der Wäscherei brauchte Mutter einen Schein. Also fuhr sie 1947 jeden Tag zur Firma Christensen nach Bergedorf. Sie hat dort gelernt. Ihr Frühstücksbrot bestand aus einer Scheibe trockenem Brot und einer Wurzel. Diese Zeit war sehr anstrengend und Mutter wurde magenkrank.
Unter anderem war Vater auch verpflichtet, im Sachsenwald Holz zu fällen. Nachts, das heißt nach Feierabend, ging er mit einem Kameraden zurück in den Wald, um Stubben zu roden. Sie wussten ja, wo gerade Bäume gefällt worden waren. Das Stubbenroden war im Herbst und Winter 1946/47 nur bei Vorhandensein eines Stubbenrodungsscheins erlaubt. Das Holz wurde in unserem Garten gespalten und zu Holzstößen aufgestapelt. Gelegentlich nahm sich ‘Frau Doktor’ ein paar Scheite. Aber was sollte sie machen, sie hatte ja nur das zugeteilte Holz. Wenn wir Strom- und Gassperre hatten, haben wir alle in der Küche gesessen und Mutter legte ein paar dünne Holzspalten auf das Gitter des Gasherdes, direkt über dem Brenner. So hatten wir etwas Licht und Wärme.
Eine Zeit lang war Vater als Feldwächter verpflichtet. Als ehemaliger Polizist musste er aufpassen, dass nichts von den Feldern geklaut wurde. Er hat natürlich auch oft die Augen zugedrückt, denn er kannte ja die Not der anderen. Vater hatte durch diese Arbeit natürlich ganz viele Vorteile. Für eine Weile durfte er sich jeden Sonntagmorgen in einem Dorf – es könnte Büchsenschinken gewesen sein – Fleisch abholen. Ich sehe noch, wie er ganz früh morgens sein Rad fertig machte, den weißen Emailleeimer nahm und los fuhr.“