Die dunklen Jahre 1945-1948 waren keine einfache Zeit für die junge Ilse H. Sie erzählt von britischen Uniformen, längst verjährten Diebstählen und vielem mehr. Gisela Hackbarth hat es festgehalten:
„Mein Vater war schon seit einigen Jahren im Kurbelwellenwerk Hamburg in Reinbek/Glinde tätig. Wir wohnten in der Bahnsenallee. Anfang Mai 1945 kam mein Vater plötzlich während des Tages mit dem Fahrrad nach Hause. Das war ungewöhnlich, denn er wurde sonst immer mit dem Dienstwagen geholt und gebracht. Da wir täglich mit dem Einzug der Engländer rechneten, war die Spannung groß: ‘Was würde uns erwarten?’ Übergriffe der ausländischen Zwangsarbeiter auf die deutsche Bevölkerung wurden befürchtet. Alle waren aufgeregt und voller Angst. Bei uns waren ein Arzt und eine Krankenschwester einquartiert. Ich erinnere mich, dass sie über Landkarten gebeugt diskutierten. Sie wollten sich in Zivil ins Rheinland durchschlagen.
Mein Vater beschloss, seine Familie und sich in Sicherheit zu bringen. Meine Eltern bepackten einen Bollerwagen mit einigen wichtigen Dingen. Dann machten sie sich mit uns, dem Bollerwagen und Kinderkarre auf den Weg nach Wentorf. In der Karre saß meine gerade zwei Jahre alte Schwester. Meine große Schwester war sechzehn, ich dreizehn Jahre alt. In Wentorf waren schon die Engländer. Wir durften nur mitten auf der Straße gehen. Kurz vor der Ortsmitte auf der rechten Seite der Hauptstraße stand eine große Scheune, hier mussten wir bleiben.
Viele Menschen waren dort untergebracht. Nachts lagerten wir ohne Betten oder Stroh auf dem Scheunenboden. Tagsüber saßen wir in Decken gehüllt draußen an der Scheunenwand in der Sonne. Es gab ja sonst nichts zu tun. Wir hatten auch kaum etwas zu essen. Es herrschten dort schreckliche Zustände. Richtig gehaust haben wir dort. Die Uniform der englischen Soldaten habe ich mir ganz genau angesehen. Sie sah so anders aus. Ich fand sie nicht schön. Sehr habe ich gehofft, einmal ein Stück Schokolade zu bekommen, aber sie gaben uns nichts.
Am dritten Tag beschloss meine Mutter, nach Reinbek zurück zu gehen, um zu sehen, was dort los war. Mit meiner kleinen Schwester in der Karre ging sie los. Einen Tag später – wir machten uns schon Sorgen um sie – kamen sie zurück, um uns zu holen. In Reinbek waren inzwischen auch die Engländer und alles war ruhig. So kehrten wir in unsere Wohnung zurück. In der Bahnsenallee sahen wir zunächst keinen Engländer. Später aber kamen welche in unsere Wohnung, um einige Gegenstände zu beschlagnahmen. Unseren Fotoapparat, eine kleine Box, durften wir jedoch behalten.
Einige Tage nach unserer Rückkehr mussten sich alle Herren des Kurbelwellenwerks bei der englischen Besatzungsmacht, die im Café Nagel ein Büro hatte, zur Abwicklung des Werks einfinden.
Meine große Schwester, die zufällig mit dem Fahrrad unten am Schmiedesberg war, sah plötzlich, dass mein Vater von Engländern begleitet zu einem Jeep geführt und weggefahren wurde. Sie bekam einen riesigen Schreck. Etwas später erfuhren wir, dass unser Vater zunächst nach Lübeck, danach ins Internierungslager nach Neuengamme kam. Mit ihm waren noch weitere Reinbeker dort in Haft.
Für uns begann eine schwierige Zeit. Unser Konto war gesperrt und wir hatten kaum Nahrungsmittel. Außerdem musste meine Mutter meinen Vater im Lager mit Essen und Wäsche versorgen. Sie fuhr immer zusammen mit meiner großen Schwester mit dem Fahrrad dorthin. Das war sehr umständlich und anstrengend. Oft fuhr sie mit Teilen ihres guten Essservices über Land und tauschte es gegen Kartoffeln ein. Einmal hat sie für einen Teppich einen Sack Steckrüben erhalten. Morgens aßen wir Stechrüben roh, mittags gekocht und abends als Suppe. Wir haben wirklich gehungert.
Manchmal durften wir uns von Bekannten, die in Bergedorf eine Schlachterei besaßen, 5 Liter Brühe holen. Mit einer großen Kanne ging ich zu Fuß nach Bergedorf und wieder zurück. Ich nahm mir immer einen Kanten Brot mit. Wenn dann auf dem Rückweg die Brühe kalt wurde, setzte sich oben eine Fettschicht ab. Mit dem Brot nahm ich mir etwas von dem Fett und aß es; es schmeckte ganz herrlich.
Während dieser Zeit hatten wir keine Schule. Deshalb wurde ich immer losgeschickt, für Lebensmittel anzustehen. Am Anfang der Schönningstedter Straße gab es den Kolonialwarenladen Leicht. Dort holte ich einmal in der Woche die uns zugeteilten Rationen. Das waren unter anderem 2 Pfund Zucker. Ich ließ mir 1 ¾ Pfund Zucker und ¼ Pfund rosa-weiße Pfefferminzbonbons geben. Dazu zwei Sorten Wurst. Auf dem Weg nach Hause ging ich erst einmal in die Wildkoppel und aß voll Heißhunger ein paar Scheiben Wurst auf. Die Bonbons waren auch verzehrt, ehe ich zu Hause ankam.
Bei Bützow an der Bergstraße holte ich Gemüse. Manchmal mussten wir stundenlang warten bis Ware im Laden war. Netterweise stellte uns Herr Bützow ein paar Kisten hin, so dass wir uns hinsetzen konnten. Meine Schwester ging zum Fischladen Stut und erhielt an Fisch, was gerade geliefert war. Im Milchladen Christiansen gab es Butter und Milch, alles natürlich rationiert auf Marken. Die wenige Milch bekam meine kleine Schwester. Meine Mutter konnte aber aus nichts was machen. So war es ein Festtag, wenn sie aus „Kornfrank Kaffee“ eine Kaffeetorte mit Pudding gefüllt gemacht hatte. In unserem großen Garten hatten wir zum Glück Obst, etwas Gemüse und ein paar Kartoffeln.
Meine große Schwester und ich hatten die Aufgabe, Holz und Koks zum Kochen und Heizen zu besorgen. Dazu gingen wir manchmal im Dunkeln in den Wald am Ende der Bahnsenallee und sägten mühsam einen Baum um; wir schafften nur kleine, dünne Bäume. Danach zersägten wir ihn in kleinere Stücke und schafften das Holz auf dem Bollerwagen nach Hause. Meine Mutter stand im Kellereingang, nahm uns das Holz ab und zerhackte es gleich in kleine Spalten. Wir fuhren mehrmals hin und her. Überall wurde gesägt, es war deutlich zu hören. Einmal kam eine Frau aus der Nachbarschaft und drohte meiner Mutter, sie würde sie anzeigen, weil sie ihre Kinder zum Holzklauen schicke. Meine Mutter beteuerte, sie wisse von nichts und außerdem seien ihre Töchter viel zu schwach für so eine Arbeit.
Um Koks zu bekommen, lungerten wir ständig am Reinbeker Bahnhof herum. Dort in der Ladestraße standen oft mit Kohlen, Koks oder Eierbriketts beladene Eisenbahnwaggons. Wir warteten darauf, dass man sie unbewacht ließ. Dann kletterten die größeren Jungen auf die Waggons und füllten Eimer oder Säcke oder warfen mit ihren Händen, was sie fassen konnten einfach nach unten. Ich war zu klein zum Hochklettern, deshalb holte ich dann schnell meine große Schwester. Manchmal wurde mir das Warten zu langweilig und ich ging einfach weg.
Von unseren vier Zimmern war eines mit einer Flüchtlingsfamilie, vier erwachsene Personen, belegt. Ein zweites mit einem Ehepaar, das in Hamburg ausgebombt worden war. Die Frau zog mit zwei Papageien und mehreren anderen Vögeln bei uns ein. Die Vögel waren das einzige, was sie gerettet hatte; sehr zum Kummer ihres Mannes. Die Tiere machten ziemlich viel Lärm und der eine Papagei rief immer ‘Heil Hitler’.
Im Wohnzimmer hatten wir einen Kachelofen. Im Winter war das oft der einzige warme Raum. Die Flüchtlinge und das Hamburger Ehepaar saßen dann auch bei uns. Wir selbst hatten nur noch ein weiteres Zimmer für uns. Auch mussten wir vieles hergeben, u.a. unser einziges Bügeleisen, weil andere nichts mehr hatten.
Schuhe waren ein weiteres großes Problem. Der Schuster Wollschläger am Rosenplatz besohlte sie mit Holz. Gern arbeitete er gegen Lebensmittel. Ansonsten trugen wir Sandalen mit Riemen, beides aus Gummi.
Nach einem Jahr wurde mein Vater aus Neuengamme entlassen. Vorher wurde er entnazifiziert. Während der Haft stellte sich bei meinem Vater ein Augenleiden ein. Man brachte ihn sogar zur Behandlung in die Augenklinik nach Kiel, aber es half nicht viel. Mein Vater baute im Garten Tabak an, trocknete ihn auf dem Boden und tauschte einen Teil gegen Lebensmittelmarken oder Lebensmittel ein. Beruflich hatte mein Vater keine Aussicht auf eine Anstellung, auch bedingt durch sein Augenleiden. Er litt sehr darunter. Nach wenigen Jahren starb er.“