Mathilde Weise-Minck, geboren 1874, war die Tochter des Ehepaares Specht, das 1874 Schloss Reinbek erwarb. Mathilde lebte mit 6 Geschwistern, der Mutter und den Großeltern im Schloss. In ihrem Büchlein „Kindertage in Reinbek“ erinnert sie sich an diese Zeit:
„Wir Kleineren gingen die ersten drei Schuljahre ins Dorf, in eine ganz kleine Privatschule, weil wir nicht so früh mit dem Zug nach Bergedorf oder gar nach Hamburg fahren sollten. Mich interessierte dabei immer der Bäckerladen unten im Haus der Schule. Der ewig weiß bestäubte, dicke Meister Bisse, der den Großeltern viel Brot und Kuchen lieferte, begrüßte uns Kinder vom Schloss jeden Morgen. Mir schenkte er fast täglich eine dicke ‘Maulschelle’ mit Zuckerguss oder ein Hörnchen im Blätterteig.
Zu unserer Freude gab es jeden Monat einmal in der Schule Bonbonstunde; da wurden Karten mit Tieren, Blumen und Städtenamen vor uns hingelegt und von der Lehrerin aufgerufen. Wer die Bilder richtig besetzen konnte, bekam einen Bonbon, so rechte Zuckerlutschbonbon, Fische oder Stachelbeeren – herrlich! Überhaupt spielte Anschauung eine große Rolle in den Stunden. Ich besinne mich noch auf die bunten Steindrucke mit einer Handwerkerstube, einer Mühle mit Esel und dem Mahlstein drauf. Besonders schön fand ich die Bauernstube, in der alles passierte: Da wurde gedroschen und gesponnen, gekocht und genäht, Bohnen wurden gepahlt und Kinder gewaschen, und mitten im Zimmer stand der Tisch, auf den gerade eine Frau eine Schüssel mit Klößen stellte.
Wenn wir ins Kinderhaus gezogen waren, begann im Garten das große Schönmachen für Pfingsten. Die Wege um das Schloss wurden mit gelbem Kies beworfen, und wenn die alte Walze so ein bisschen rostig quietschte, um alles schön glatt zu machen, dann wurde es Sommer! Unsere Gartengeräte, die Schaukel und die Turnsachen, kamen zwischen die Bäume auf den Spielplatz, das Krocket wurde geholt. Unsere Kinderbeete mussten sommerlich bepflanzt werden, und auf dem Hof piepste und quiekte es von lauter Jungvieh. Martha fuhr Küken im Puppenwagen sachte spazieren. Ich nicht, ich konnte nie so recht mit Puppen spielen und mochte ihnen auch keine Schärpen und Haarbänder festmachen; meine mussten immer Schürzen tragen und wurden darum von Marthas vielen Puppenkindern nicht recht für voll angesehen. Elsa musste mein Puppenkinderfräulein sein, weil sie so ungeheuer geschickt war mit Anziehen und Hütemachen. Ich las dann lieber und war ‘Madam’. Minna musste Marthas Kinder anpelzen, mochte es aber auch nicht so gern.
Das Haus war ein altes Schloss aus dem 15. Jahrhundert, so stand es oben auf der Glocke im Turm. Manchmal durften wir zu ihr mit dem alten Küster hinaufsteigen, über eine alte Wendeltreppe. Die Stufen hatten ausgeschnittene Löcher, durch die die großen Feldsteine, die Gewichte der Uhr rauf- und runterächzten und knarrten. Wenn dann gerade die Glocke anschlug, hallte es unheimlich in der Kuppel. Onkel Hugo, Mamas Bruder, erzählte uns, dass in den Nischen der anderen Wendeltreppe, die bei der Kapelle lag, Nonnen eingemauert seien, die sich einst verbotenerweise mit Mönchen aus dem Kloster im Bergedorfer Schloss getroffen hatten. Ein unterirdischer Gang verband die Klöster unter der Bille und dem Heidberg. Als unser Vater den Besitz nach dem Siebziger Krieg gekauft hatte, ließ er den Gang von unserer Seite aus einige Meter zumauern.
Der Mühlenteich war ganz zugefroren. Großvater aber erlaubte Schlittschuhlaufen nur, wenn er zwei Kinder mit einem langen Tau um den Bauch an der Strippe hatte und zwei der alte Friedrich. Nur die Jungens durften allein laufen und auch Anna, die schon mit großen Jungens fuhr. Wir lernten es daher nie so recht, aber es war wohl besser so, denn die Bille floss durch den großen Teich. Sie hatte unsichere Stellen, die jedes Jahr Menschenopfer kosteten. Unser Bruder Ernst ist auch einmal eingebrochen und wurde gerade noch von Molly, unserer Bernhardiner Hündin, gerettet. Später bekam sie im Gemüsegarten unter einem alten Pflaumenbaum ihr Grab.
Wenn Raureif war, konnte ich nie ins Haus finden. Dann war der große Garten wie ein Feenland, und man konnte sich die schönsten Dinge ausdenken. Täglich fütterte ich die Vögel, die in Scharen kamen; viele waren ganz zahm.
‘Rüschen’ nannten wir es, wenn wir mit unseren kleinen Schlitten von der Schule, die oben auf dem Berg lag, bis fast zum Bahnhof rodelten, wohl zehnmal hintereinander. Die Dorfjungens standen mit Holzschuhen auf ihren Ränzeln und piekten, einen Holzstock zum Abstoßen zwischen den Beinen, den Berg runter. Einmal durften wir mit dem großen Schlitten und Schellengeläut in den Wald fahren und dem Wild bei der Fütterung zusehen. Wenn es dann gerade so lautlos schneite, ach, wie schön war das!“
Mathilde Weise-Minck: Kindertage in Reinbek. Piper, München 1947.