Ulrich Schlodtmann war damals ein Kind von neun Jahren. Um die Ernährung zu sichern, musste auch er mithelfen, Essbares für die Familie zu beschaffen.
Meine Hamsterfahrten in die Vier-Marschlande im Jahr 1946
Nach dem 2. Weltkrieg waren die Vier-und Marschlanden für Nichtbewohner Sperrgebiet, um den Strom der hamsternden Menschen zu unterbinden. Nur die dortigen Einwohner hatten freien Zugang. Ein Weg der Einreise in die Vier-und Marschlande war mit der Vierländer-Eisenbahn, welche von Bergedorf über Bergedorf-Süd, Pollhof, Curslack-Neuengamme, Kirchwerder-Nord, Zollenspieker -Querweg nach Zollenspieker fuhr. Passagiere die von Bergedorf in das Sperrgebiet einreisen wollten, wurden kurz vor der Abfahrt des Zuges von der Polizei einer Personalausweiskontrolle unterzogen.
In dieser Zeit lebte ich als 11-jähriger Junge in Reinbek. Da das Haus meiner Eltern von den Engländern beschlagnahmt war, lebten wir mit meiner Schwester als Einquartierung in zwei Räumen (13 und 11qm) unter sehr einfachen Verhältnissen (kein fließendes Wasser, ein Herd zur Befeuerung, kein Bad) und hatten keinen Garten mehr, mit dessen Ertrag wir unsere Ernährung ergänzen konnten.
In dieser Zeit haben wir auch nach der Abernte der landwirtschaftlichen Felder die restlichen Kartoffeln, Kornähren usw. aufgelesen. Man nannte es Stoppeln. Bei dieser Tätigkeit hörte ich von einem Jungen, dass er auch nach Vierlanden zum Hamstern fuhr und zwar mit der Vierländer-Eisenbahn und bei der Einreise in das Sperrgebiet im Zug nur einen dortigen Ort und Straße nannte und somit ohne Probleme einreisen konnte. Der Trick funktionierte, da Kinder in der Zeit keinen Ausweis hatten. Also nannte man bei der Kontrolle in der Bahn einen Ort und eine Straße und schon war die Einreise möglich. Aus heutiger Sicht hatte die Polizei wohl ein Auge zugedrückt. So fuhr ich bis Curslack oder Kirchwerder und machte mich auf die Suche nach einem Gemüsebauern, wo ich mit der Reichsmark, welche ja praktisch wertlos war, etwas erwerben konnte.
Am besten waren die Hamstertouren in der Erntezeit, in der die Gemüsebauern auf den Feldern arbeiteten und in ihren Häusern nicht anzutreffen waren. Die Anbaugebiete waren fast überall schmale Felder, die tief in das Anbaugebiet hineinreichten, und oft führten lange Schienenwege in die Felder, worauf mit kleinen Loren die Arbeitsgeräte und die Ernte befördert wurde. So musste auch ich solchen langen Wegen folgen, um zu fragen, ob ich z.B. Tomaten, Bohnen usw. abkaufen konnte. Auf den Feldern arbeiteten überwiegend Frauen, die meistens sehr freundlich waren und mir auch etwas verkauften.
Nachdem ich meinen von meiner Mutter selbstgenähten Rucksack gefüllt hatte und auch zwei Körbe, meist mit Tomaten gefüllt hatte, ging der Weg zum Bahnhof. Dort, wo sich auch einige andere Kinder vom Hamstereinkauf einfanden, gab es einmal ein Problem. Denn kurz vor der Abfahrt des Zuges nach Bergedorf, kam ein Polizeiwagen, ich sehe ihn noch heute vor mir, ein schwarzer Mannschaftswagen der Marke Opel Blitz. Die Polizei nahm unsere mühsam erworbenen Einkäufe weg.
Dieser Umstand veranlasste uns natürlich, sich vor diesem Risiko zu schützen. So suchten wir Verstecke, um erst kurz vor dem Eintreffen des Zuges am Bahnhof aufzutauchen. Auch legten wir entfernt vom Bahnhof unsere Ohren auf die Schienen, um so das Herannahen des Zuges zu hören.
Einmal versteckte ich mich in der Nähe des Bahnhofes in einem Feld und verließ es als der Zug kam, aber mein Zeitplan war zu kurz bemessen, so dass ich den Bahnhof erst beim Anfahren des Zuges in letzter Minute erreichte und auf den anfahrenden Zug aufspringen musste. Meine mithamsternden Kinder im Zug nahmen mir zwei Körbe ab, damit ich den Sprung auf die äußere Plattform des Waggons schaffte. Vom Zug aus entdeckte ich dann, dass die Polizei am Bahnhof stand und meinen Kampf bei der Abreise mit angesehen, aber nichts unternommen hatte. Ich war ganz verwundert und natürlich mehr als dankbar für die menschliche Geste. Den Kindern im Zug hatte man ihre Einkäufe abgenommen.
Bei der Rückreise war meiste eine weitere Entscheidung zu treffen. Steige ich bei der Station Bergedorf-Süd aus, oder fahre ich bis zum Endpunkt Bergedorf, welcher einen getrennten Bahnsteig vom Ortszugverkehr Hamburg-Aumühle hatte. Auch hier wurde beim Verlassen des Bahnsteiges kontrolliert und uns dabei alles abgenommen.
Einmal passierte es zu meinem großen Glück, dass mich ein Bahnbeamter in seinem Lastenfahrstuhl mitnahm, und so entkam ich der Kontrolle. Um kein Risiko einzugehen, fuhr ich dann bis Bergedorf-Süd und nahm dann den beschwerlichen Weg durch Bergedorf um auf den Bahnsteig des Ortszugverkehrs zu kommen, wo nicht kontrolliert wurde.
Meistens war ich aber vorsichtig und ließ den Zug von Vierlanden ohne mich abfahren, was zur Folge hatte, dass ich zu Fuß auf den Schienen nach Bergedorf marschierte. Es war ein langer, beschwerlicher Weg (ca.9 km), auch durch das Tragen des Rucksacks und der zwei Körbe. Die schmalen Träger des Rucksacks schnürten sehr und der Abstand der Eisenbahnschwellen stimmte nicht mit der Größe meiner Schritte überein. Trotzdem, mit einigen Pausen schaffte ich es immer nach Bergedorf.
Auf diesem Weg traf ich einmal einen anderen Jungen aus Hamburg, der mir berichtete, dass seine Mutter auf dem Schwarzmarkt seine Hamsterware verkaufte, und er für das Geld auch Süßigkeiten bekam. Er forderte mich auf, doch auch einmal etwas zu seiner Mutter zu bringen und so dafür sehr viel Geld zu bekommen. Gesagt und getan, ich machte mich mit zwei Körben Tomaten auf den Weg nach Hamburg zum Hein-Köllisch-Platz auf St.Pauli, dem Wohnort des Jungen. Beim Eintreffen dort, bemerkte ich, dass einige Schwarzmarkthändler auf dem Platz ihren Geschäften nachgingen. Ich ging in das genannte Miethaus und betrat die Wohnung, wo mich der Junge (der Familienname Pfeffer ist mir noch gut in Erinnerung) empfing. Die Mutter kam sogleich und erklärte mir, dass Tomaten sich zurzeit nicht verkaufen ließen. Da ich nun nicht mit den Tomaten wieder nach Hause fahren wollte, verkaufte ich sie für einen deutlich niedrigeren Preis, als ursprünglich vereinbart war. Anschließend versuchte mir die Frau teures Kaugummi anzudrehen, was ich aber ablehnte.
Am Ende der Erntezeit endete meine letzte Hamsterfahrt mit einem Rucksack voller Falläpfel und zwei leeren Körben.