Eine Wahre Geschichten aus Reinbek 1945 aufgeschrieben von Prof. Dr. Wolfgang Metz für seinen Enkel Juraj im Dezember 2002
Es war 1946, in jenem berühmten sehr kalten Winter. Da passierte mir die Geschichte vom Klavier und einem Ohr. Was kann sich hinter diesen drei Worten verbergen, die anscheinend so gar nichts miteinander zu tun haben? Vielleicht dies: “Ich höre mit einem Ohr ein bekanntes Klavierstück”. So einfach ginge es also doch mit diesen drei Worten. Aber: Völlig falsch – meine Geschichte kann man wirklich niemals erraten.
Ich war Schüler in der “Sexta” (unterste Klasse) des Gymnasiums in Reinbek. Aber wegen der großen Kälte und der immer noch “schlechten Zeit” nach dem zweiten Weltkrieg fiel der Schulunterricht wochenlang aus. Wir gingen jedoch am späten Vormittag in das Schulgebäude, um unsere “Schulspeisung” einzunehmen – für viele die einzige nahrhafte Mahlzeit am Tage. Darüber habe ich aber schon mal berichtet.
Einmal in der Woche ging ich vorher zur Klavierstunde. Meine Klavierlehrerin hieß “Fräulein Benneke”. Sie war Flüchtling aus dem Osten Deutschlands und wohnte in einem schönen großen Haus in Reinbek, der “Villa Cloppenburg”. Leider aber war das Haus sehr stark mit Flüchtlingen belegt, und Fräulein Benneke hatte nur ein einziges Zimmer zur Verfügung (wegen der großen Räume in der Villa und weil eine Person nur Anspruch auf eine bestimmte Quadratmeterzahl hatte). Dieses Zimmer war mit Vorhängen aufgeteilt in einen Schlafzimmerteil, eine Küchennische und den Wohnzimmerteil, in dem natürlich das Klavier stand.
Die Villa Cloppenburg lag ziemlich weit von uns entfernt, ungefähr eine dreiviertel Stunde zu Fuß. Dorthin mußte ich also zur Klavierstunde gehen. Ja, richtig: gehen, denn ein Fahrrad besaß ich mit meinen 11 Jahren noch nicht (was ganz normal war), und öffentliche Verkehrsmittel gab es innerhalb Reinbeks nicht. Man ging normalerweise zu Fuß ! Ich musste zum Beispiel zur Schule eine halbe Stunde gehen (später, als ich fast nur noch Dauerlauf machte, waren es zwanzig Minuten).
Mein Bruder Helmut hatte auch Klavierunterricht. Er ist vier Jahre älter als ich, und dieser Abstand reichte aus, um ihn für mich als “Erwachsenen” erscheinen zu lassen. Das heißt: was er sagte, war richtig. Er war übrigens auch Klassenbester und las furchtbar viele Bücher, so dass er für mich absolute Autorität war – obwohl er ja auch erst 15 war !
Manchmal gingen wir zusammen zur Klavierstunde. So auch eines Tages in jenem “saukalten” Winter 1946. Und jetzt kommt der erste wichtige Punkt dieser Geschichte! Unser Weg ging über ein großes freies Feld mit einem schmalen Trampelpfad, dem sogenannten “Feldweg”. Der eisige Ostwind blies von vorne, und ich fror entsetzlich. Während ich mich wegen der großen Kälte nur mühsam unterhalten konnte, fiel mir auf, dass Helmut recht gesprächig war und ihm die Kälte anscheinend nicht so viel ausmachte. Vielleicht war er wärmer angezogen als ich. Jedenfalls wagte ich zu sagen:
“Ich finde es heute zu kalt. Meine Finger sind so eingefroren, dass ich gleich bestimmt nicht Klavier spielen kann.”
Er musterte mich abschätzig und sagte in überheblichem Ton: “Naja, du hast eben keinen Kältenerv”.
Das hat mich umgehauen ! Ich kam mir sofort ganz minderwertig vor. Mein großer Bruder war also nicht nur so furchtbar klug, sondern er hatte offenbar auch noch einen Kältenerv, der mir also fehlte ! Ich habe mich dann selbst beobachtet und versucht, die Kälte einfach nicht zu beachten. Das ging tatsächlich zeitweise recht gut. Vielleicht war es so, dass man seinen Kältenerv trainieren musste.
So gewöhnte ich mir also an, nicht mehr über die Kälte zu jammern, sondern sie einfach hinzunehmen und möglichst wenig zu beachten. Was dabei herauskam, erzähle ich jetzt.
Wieder ging ich eines Morgens zur Klavierstunde, und wieder war es “saukalt”. Diesmal war ich alleine, und ich erinnere mich noch genau, dass es gar nicht hell werden wollte, so tief und grau hingen die Wolken am Himmel. Es schneite mittelstark, und die Schneeflocken trieben mir genau ins Gesicht. Ich hatte eine Mütze mit seitlichen Ohrenklappen auf (das war damals die allgemeine “Mode” für meine Altersgruppe). Die Ohrenklappen hatte ich natürlich heruntergeklappt, aber sie lagen nicht sehr fest an, und der Wind pustete kräftig hinein – und damit kamen auch die Schneeflocken, die sich an den Ohren regelrecht ansammelten, besonders am rechten Ohr. Ich dachte intensiv an den Kältenerv und hielt die Kälte tapfer aus. Wenn ich mal ein so reifer Mensch wie mein Bruder Helmut werden wollte, musste das wohl sein.
Fräulein Benneke bemitleidete mich, und ich musste erst mal etwas Warmes trinken und ordentlich Fingergymnastik machen, damit ich überhaupt die Tasten bewegen konnte. Eigentlich war es Quatsch, unter solchen Umständen ausgerechnet Klavier spielen zu wollen (Trompete zum Beispiel wäre günstiger gewesen), aber es war nun mal so. Und das Haupt-Augenmerk war verständlicherweise auf die Finger gerichtet -(und nicht etwa auf das rechte Ohr, denn das wäre interessanter gewesen . . . )
Die Klavierstunde ging vorbei, und mein Weg führte mich jetzt zur Schule, also zur Schulspeisung. Es war nun nicht mehr so kalt, auch der Weg war kürzer, der Wind günstiger, und es hatte aufgehört zu schneien. Die Sonne kam sogar zum Vorschein – mit anderen Worten: es war richtig gemütlich, verglichen mit vorher. In der Schule war nur der große Schulspeisungsraum ein wenig geheizt, aber die Suppe war heiß, und während wir da saßen und die Suppe schlürften, wurde mir endlich schön warm.
Plötzlich schaute mein Nebenmann mich mit großen Augen an und sagte: “Was ist denn mit deinem Ohr los ?” Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, und fasste mit den Händen an meine Ohren.
O Schreck !! Das rechte Ohr war riesengroß und fühlte sich ganz heiß an! Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte und was ich machen sollte. Ein paar Klassenkameraden kamen und staunten etwas belustigt das Riesenohr an. Einer sagte: “Das sieht knallrot aus. Das ist ja doppelt so groß wie das andere Ohr !”
Ich bekam es allmählich mit der Angst, denn ich hörte auch so “fachmännische” Bemerkungen wie: “Das fällt bestimmt gleich ab” oder “ob das wohl ansteckend ist?” oder “das war sicherlich ein Hornissenstich” (obwohl im tiefsten Winter bestimmt keine Hornissen herumfliegen).
Keiner hatte eine glaubhafte Erklärung für das so schnell gewachsene Ohr, das übrigens überhaupt nicht wehtat, sondern sich im Gegenteil angenehm warm anfühlte. Immerhin rannte ich dann sehr schnell nach Hause, um die Überraschung meiner Mutter zu zeigen. Die hatte sicherlich eine Erklärung, dachte ich.
Aber das war ein Irrtum. Meine Mutter erschrak gewaltig beim Anblick des Riesenohres. Normalerweise war sie kaum zu verunsichern, sie war eine resolute Frau, die immer Rat wusste. Diesmal aber wirkte sie so erschrocken, dass ich selbst auch in Panik geriet. War es denn so schlimm ? Ich ging zum Spiegel in der Garderobe und sah nun zum ersten Mal selbst dieses komische rote Gebilde, das mein Ohr sein sollte. Es war wirklich doppelt so groß wie das andere Ohr und stand vom Kopf ab. Würde das etwa so bleiben ?
“Sofort zum Arzt”, entschied meine Mutter, und meine Angst wuchs weiter. Ich sah im Geiste schon den Arzt mit dem Messer, wie er sagte: “Tut mir leid, aber das Ohr muss ab, sonst wächst es immer weiter”. Jetzt tat es plötzlich auch weh, und wuchs nicht auch der Schmerz stetig an ?!
Wir gingen also schnell zu Dr. Koch, unserem Hausarzt, das bedeutete: Wieder eine halbe Stunde durch die Kälte. Diesmal aber hatte meine Mutter mir noch einen Schal um den Kopf gewickelt, damit bloß nicht noch Schlimmeres mit meinem Ohr passierte. Sie dachte sich schon, dass die Sache irgend etwas mit er Kälte zu tun haben musste. Und da hatte sie recht.
Dr. Koch sah sich das Ohr an und stellte ein paar Fragen, z.B. ob ich draußen eine Mütze getragen hätte und was für eine. Dann sagte er die erlösenden Worte: “Das ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Das Ohr war angefroren, und beim Wieder-Auftauen fließt sehr viel Blut hinein, damit es wieder richtig warm wird, und dabei schwillt es an. Aber Glück hast du trotzdem gehabt. Sehr viel länger hätte es nicht so kalt bleiben dürfen. Im Krieg gab es viele Erfrierungen von Körperteilen bei Soldaten, und oft musste etwas amputiert werden”.
Im Laufe der nächsten zwei Tage nahm das Ohr allmählich wieder seine alte Form an, aber eins habe ich mir von da an gemerkt: Einen sogenannten Kältenerv haben nur Angeber, und dazu rechnete ich jetzt ein wenig meinen Bruder Helmut.
Dein Opa