Eine wahre Geschichten aus Reinbek 1945 aufgeschrieben von Prof. Dr. Wolfgang Metz für seinen Enkel Juraj im Dezember 2002
Lieber Juraj!
Zu deinem zehnten Geburtstag will ich dir von meinem zehnten Geburtstag erzählen.
Das war am 13. Mai 1945 in Reinbek. Es war wohl der schönste Geburtstag in meinem Leben. Wunderbares, sonniges Wetter, alles in frischem Frühlingsgrün. Und ich war sehr glücklich und dankbar.
Vielleicht für die vielen Geschenke? Nein – ich hatte überhaupt kein Geschenkpaket bekommen, kein einziges. Aber etwas viel Schöneres: Der Krieg war zu Ende, gerade ein paar Tage vorher! Deshalb war ich superfroh und erleichtert. Ich musste keine Angst mehr haben vor Bomben und Granaten.
Noch kurze Zeit vorher brachte die Familie eine Woche im Keller zu, mit verrammelten Kellerfenstern, damit wir von den Kämpfen der letzten Kriegstage nichts abbekämen. Im Garten hatten sich deutsche Soldaten verschanzt, mit „Panzerfäusten“, um die erwarteten englischen Panzer zu beschießen. Gott sei Dank kam es dazu nicht mehr, denn die deutschen Soldaten waren so klug, einfach abzuhauen und nicht mehr sinnlos zu kämpfen.
Das wussten wir aber in unserem Kellerversteck nicht. Es gab auch kein Radio, Telefon oder sonst eine Verbindung nach außen, und so konnten wir nur abwarten. An einem Morgen hörten wir plötzlich draußen eine Handglocke bimmeln. Mein Vater (also dein Urgroßvater) schlich sich vorsichtig hinaus – und da standen auch schon ein paar Nachbarväter, und ein Bote vom Rathaus verkündete: „Der Krieg ist zu Ende! Es werden jetzt englische Panzer durch die Straßen rollen, aber das sind nicht mehr unsere Feinde. Seid freundlich zu ihnen, sie werden auch zu euch freundlich sein“.
Das war schwer vorzustellen, denn bisher hatte man von den Engländern nur als den schlimmen, schrecklichen Feinden gehört. Trotzdem hielten wir Kinder uns gespannt im Garten auf, hinter der Hecke, immer bereit, schnell im Haus wieder zu verschwinden. Als die ersten Panzer am Garten vorbeifuhren, sahen wir nette junge Soldaten auf ihnen sitzen. Als sie uns sahen, winkten sie und warfen uns etwas zu. Kaum waren sie verschwunden, gingen wir vorsichtig heran. Es waren eingepackte große Weißbrotschnitten mit Butter und Wurst – und runde Schokoladetafeln in flachen Blechdosen.
Wir wussten nicht: Sollten wir diese „Schätze“ essen?? Denn bisher hatten wir solch üppige Nahrungsmittel noch nie gesehen, und wir hatten auch ziemlich viel Hunger ausstehen müssen. Einige Erwachsene sagten: Die sind sicherlich vergiftet! Sie konnten sich nicht so schnell vorstellen, dass diese Engländer nicht mehr unsere schlimmen Feinde sein sollten. Aber irgendjemand fing doch an, diese wunderbaren Butterbrote und die Schokolade zu essen. Und da er keinen Schaden nahm, war das Problem geklärt.
Bald standen wir direkt an der Straße und warteten schon sehnsüchtig auf den nächsten Panzer. Wenn einer kam, winkten wir freundlich, und die Soldaten gaben uns immer wieder von ihrem Brot und ihrer Schokolade etwas ab. Sie wussten, dass wir sehr wenig zu essen hatten, und sie sahen, dass wir froh waren über ihr Erscheinen. Und sie erkannten wohl auch, dass wir nicht zu den Nazis gehörten.
Auf solch einen Tag fiel mein zehnter Geburtstag. Für mich fing ein neues Leben an, frei von der schrecklichen Angst, die ich vorher immer gehabt hatte. Kannst du dir vorstellen, dass es der schönste Geburtstag meines Lebens war, auch wenn er ganz ohne die üblichen Geschenke ablief?
Dein Opa