Ein schwieriger Teil der Reise ist für Hildegard H. schon einmal geschafft. Sie hat es mit ihrer Mutter und einigen Geschwistern tatsächlich in den Westen geschafft. Wie es sie nach Dänemark verschlägt und was sie dort erlebt, erzählt sie jetzt. Mitgeschrieben hat wieder Gisela Hackbarth.
„Aus Sörup teilte meine Mutter unseren Verwandten in Reinbek unsere vorläufige Adresse mit. Wenige Tage später erhielten wir ein Telegramm mit der Nachricht, dass meine ältere Schwester in Kolding in Dänemark [zu dieser Zeit von der Wehrmacht besetzt] sei. Wir waren erleichtert zu wissen, dass sie es in den Westen geschafft hatte. Meine Mutter beschloss, ihr den einen Koffer, der ihre Aussteuer enthielt, zu schicken. Meine Schwester hatte nämlich erst am Tag vor Weihnachten 1944 geheiratet. Aufgrund der Hochzeit hatte übrigens meine Mutter meinen jüngeren Bruder unter großen Schwierigkeiten aus Hinterpommern, wohin er 1943 evakuiert worden war, holen dürfen. Per Bahn wollte sie also den Koffer zu ihr schicken, aber man wollte ihn nicht befördern. Stattdessen schlug man meiner Mutter vor, sie solle ihn persönlich nach Kolding bringen. Wir bräuchten auch keine Fahrkarten, wir dürften den Zug einfach so benutzen, es würde auch niemand mehr kontrollieren. Also machten wir uns mit all unserer Habe auf die Reise nach Kolding.
In der Lateinschule
In Kolding, mitten in der Stadt, lag die Lateinschule. Hier waren sehr viele Flüchtlinge untergebracht. Meine Mutter fragte nach ihrer Tochter Elisabeth, und sie war tatsächlich dort. Über Lautsprecher wurde sie zum Eingang beordert. Als meine Schwester sah, wer sie erwartete, brach sie schluchzend zusammen. Seit Wochen hatte sie von niemandem ein Lebenszeichen erhalten, weder von ihrem Mann, noch von Eltern oder Geschwistern. Sorge und Anspannung waren so groß gewesen, dass sie Stunden brauchte, um sich zu beruhigen. Sie selbst hatte das große Glück gehabt, aus dem schon von Russen umzingelten Kolberg mit einem Wehrmachtskonvoi an der Küste entlang nach Gotenhafen fliehen zu können. Von dort aus war sie mit einem Schiff der Marine nach Dänemark gelangt.
Wir blieben nun auch hier in der Lateinschule in Kolding, denn wohin sonst sollten wir gehen? In einem riesigen Saal mit dreistöckigen Betten bekamen wir drei Betten zugewiesen. Mann und Frau, Alte und Junge, alle einander fremd und ohne Schutz vor den Blicken der anderen, denn Vorhänge oder andere Abtrennungen gab es nicht, schliefen hier zusammen.
Inzwischen war es wohl Ende März 1945. Es gefiel uns in Dänemark. Es erschien uns wie ein Paradies. In den Schaufenstern gab es Obst und Gemüse und Kuchen mit Schlagsahne. Schlagsahne kannten mein Bruder und ich gar nicht mehr. Das Schönste war, es gab keinen Fliegeralarm! Nachts konnten wir endlich ungestört schlafen. Gehungert haben wir in dieser ganzen Zeit nie. Unsere Mutter hatte genügend Reisemarken bei sich. Noch in Stettin hatte sie statt Lebensmittelkarten, die nur eine Woche Gültigkeit hatten, Reisemarken, die länger gültig waren, bekommen oder irgendwie organisiert, denn Reisen oder gar Flüchten war ja verboten.
Im Lager
Dann kam der 7. Mai. Die Erwachsenen saßen ungläubig und auch weinend vor den Lautsprechern des Rundfunks und erfuhren von der Kapitulation. Ich schaute immer aus dem Fenster und dachte, es ändert sich ja gar nichts. Was passiert denn nun? Zunächst änderte sich nichts. Dann, ein paar Tage später, marschierten Kolonnen deutscher Soldaten durch die Stadt. Man hörte sie marschieren. Wenig später mussten alle die Lateinschule verlassen. Wir wurden in nun leer stehende Baracken der ehemaligen deutschen Besatzungsmacht einquartiert und das Lager von Stacheldraht umgeben. Jede Baracke hatte mehrere große Räume. In jedem Raum waren bis zu achtzehn Personen untergebracht. In der Mitte ein langer Tisch mit Holzbänken und dreistöckige Betten, das war die Ausstattung. Ein Kanonenofen sorgte im Winter für ein wenig Wärme.
Am schlimmsten waren die Wanzen. Zuerst wussten wir gar nicht, woher wir die vielen roten juckenden Stellen hatten, bis wir die Tierchen in den Betten entdeckten. Zuerst dachten wir, sie kämen aus dem Dielenboden und stellten alle Bettpfosten in Blechdosen mit Petroleum. Aber es half nichts, die nächtlichen Plagegeister waren trotzdem da. Schließlich erkannten wir, dass sie nachts aus den Ritzen der Holzdecke gekrochen kamen und sich auf uns in den Betten fallen ließen. Von nun an ging meine Mutter jede Nacht auf Wanzenjagd. Mit einer Taschenlampe leuchtete sie das Bett ab, und wenn sie eine gefunden hatte, nahm sie das Tierchen mit Papier auf und zerdrückte es. Dieses Knacken ist mir immer noch in unangenehmer Erinnerung, ebenso wie die häufige Störung des Schlafes mit den Worten: Rutsch mal! Mutter hatte wieder eine Wanze entdeckt.
Als dieser Zustand unerträglich wurde, kam der ‘Wanzenkönig’, das heißt, ein Kammerjäger kam, um das Ungeziefer zu vernichten. Er stellte einen kleinen Ofen, der einen unangenehmen Rauch verströmte, und vernebelte stundenlang den Raum. Alle Bewohner mussten sich während dieser Prozedur draußen vor der Baracke aufhalten. Danach hatten wir für eine Weile eine ungestörte Nachtruhe.
Im Lager wurden wir auch verpflegt. Auch wenn das Essen einfach und karg war, gehungert haben wir nicht. Dafür sind wir den Dänen dankbar. Oft gab es Kümmelharzer, den mein Bruder gar nicht mochte. Aber er erhielt regelmäßig einen Becher Milch, weil er noch keine zehn Jahre alt war. Von der Milch hätte ich zu gerne auch getrunken, aber meine Mutter hütete sie für den ‘Kleinen’.
Manchmal gingen Dänen am Lagerzaun entlang und spuckten uns an. Andere lächelten uns zu oder schenkten uns Kleinigkeiten. Ein Däne, der seinen Garten in der Nähe des Lagers hatte, warf uns im Herbst Äpfeln von seinen reich tragenden Bäumen über den Zaum, obwohl das eigentlich verboten war. Wir haben uns sehr darüber gefreut.
Im Lager gab es für uns nicht viel zu tun. Aber es wurde eine kleine Kirche gebaut, in der sonntags Gottesdienst stattfand. Für diese Kirche war auch ein Klavier gespendet worden. Meine Schwester durfte im Gottesdienst und später auch wann immer sie wollte darauf spielen. Eines Tages kam eine junge, tatkräftige Frau auf die Idee, die Lagerinsassen mit Musik und auch Tanz zu unterhalten. Das brachte allen viel Spaß. Einige hatten auf der Flucht ihre Instrumente retten können. So konnte ein richtiges kleines Orchester gebildet werden. Sie erteilte uns jungen Leuten auch Tanzunterricht. In diesem Lager war auch eine Jungenklasse aus Berlin mit ihrem Lehrer gelandet. Der gab seinen Schülern Unterricht und ich durfte daran teilnehmen. Mein Bruder hatte keine Schule, er konnte den ganzen Tag spielen und fand das toll.
Außer uns deutschen Zivilisten, war auch noch für einige Monate ein Minenräumkommando der Marine im Lager untergebracht.“