… eine Frage, die sich viele Heimatvertriebene aus den Ostgebieten gestellt haben. Vom Aufbruch in den Masuren bis zur Ankunft in Ohe erzählt Anni K. Mechthild Pirson hat ihre Geschichte aufgeschrieben:
„Anni lebte mit ihren Eltern und drei Schwestern in Friedrichsthal (Masuren). Sie besaßen dort einen Hof mit Kühen, Schweinen und ließen alles zurück, als am 19. Januar 1945 der Bürgermeister von Osterburg befahl: ‘Fahren Sie los!’. Einmal war es unumgänglich, dieser Aufforderung zu folgen, zum anderen erinnerte man sich an den ersten Weltkrieg, als man Haus und Hof verlassen musste, zumal auch schon Gefechtslärm zu hören war. Allerdings hatte man die Hoffnung wie damals 1918, später wieder heimkehren zu können.
Schon im Herbst hatte der Vater einige Vorkehrungen getroffen. Er hatte zwei Wagen mit gebogenen Stäben versehen, über die zum Schutz Teppiche gelegt werden konnten. Am Sonnabend, dem 20. Januar 1945 brach man auf. Soldaten halfen, unter fernem Gefechtslärm, beim Beladen, beim Schlachten einer Kuh und dem Einsalzen des Fleisches, damit es auf der Fahrt etwas zu essen gab. Auch Geflügel wurde zur Ernährung vorbereitet. Alles Vieh blieb zurück. Nur die Hunde begleiteten noch eine Weile den Treck. Unterwegs hörte man auf manchem Hof das Gebrüll von Kühen, die nicht mehr gemolken wurden.
Mit zwei Gespannen und vier Pferden – eine Stute war trächtig – erreichten die Eltern mit den drei Töchtern, einem auf dem Hof arbeitenden Polen und Familie Markshöwe nach einer Übernachtung bei einem Bauern Heilsberg. Dort trafen sie Großeltern und Schwägerin. Soldaten räumten vorübergehend ihre Unterkunft, während die Pferde in einer Kaserne versorgt wurden.
Sehr bald kam aber auch hier wieder der Räumungsbefehl. Annis armamputierte Bruder durfte seiner Familie bei der Flucht helfen, wobei die Uniform natürlich die Situation erleichterte. Die beiden Gespanne – Gummiwagen -, beladen mit Lebensmitteln, Betten und Futter für die Pferde, nahmen noch Verwundete mit. 15 Personen wurden schließlich befördert. In Braunsberg verließen der Bruder und seine schwangere Frau wieder die Familie in Richtung Kaserne. Ein Wunder, dass man sich viel später in der Lüneburger Heide wieder fand.
Anfang Februar wurde das zugefrorene Frische Haff erreicht, über das Soldaten so genannte Brücken gebaut hatten, eine Art Straße, um überhaupt ohne größere Gefahr über das Eis gelangen zu können. Trotzdem sah man viele Tote im Wasser, als die Familie von morgens bis abends unterwegs war und schließlich zur Frischen Nehrung gelangte. Immer noch in Ostpreußen ging es über Danzig nach Pommern, Stettin, immer verfolgt von den Russen. Hin und wieder gab es unterwegs Essen, aber die Bauern hatten selber kaum etwas.
Soldaten sah man zuletzt in Ostpreußen. In Pommern nicht mehr. Schließlich wurde Mecklenburg erreicht und im Dorf Mecklenburg Halt gemacht. Endlich konnte man sich auf einem Gut wieder waschen, gab es aus einem Kessel Essen. Die Besitzer regten an, zu bleiben, da wohl auch Hilfskräfte gebraucht wurden. Aber der Vater wollte weiter und brach nach drei Tagen wieder auf, allerdings musste erst noch die Erlaubnis des örtlichen Bürgermeisters eingeholt werden.
Das nächste Ziel war dann Schleswig-Holstein. In Ratzeburg fand die Verteilung statt. Der Name Stormarn fiel, wo aber war der Ort Stormarn? Auf keiner Karte war er zu entdecken, so strebte die Familie erst einmal nach Bad Oldesloe. Wieder musste übernachtet werden, dieses Mal in Großensee. Auch hier bat eine Bäuerin, die mit einem Polen zusammen alleine wirtschaftete, um Hilfe. Aber man hatte den Befehl, sich in Ohe zu melden.
Am 18. März, Palmsonntag, fuhren die beiden Gespanne in Ohe ein. Eigentlich wollten sie noch weiter nach Schönningstedt. Da aber noch ein anderer Treck dorthin wollte, wurden sie in Ohe untergebracht. Die Eltern bekamen ein Zimmer in einem Haus an der Straße nach Neuschönningstedt bei Slowinski. Eine Schwester zog nach Mühlenbeck. Die anderen beiden Schwestern bezogen ein Zimmer bei Bürgermeister Finck, der im Betrieb gut ihre Hilfe gebrauchen konnte. Geld gab es nicht, aber freie Unterkunft und Essen. Wie auch ein junger Mann aus Berlin arbeiteten sie auf dem Feld, während der Bauer selber nicht aufs Feld ging. Als nach Weihnachten das Dreschen beendet war, wurden sie plötzlich nicht mehr gebraucht – eine bis heute bittere Enttäuschung.
Sie zogen in das einzige Zimmer zu ihren Eltern, die aber später doch noch einen zusätzlichen Raum bekamen. Anni las in der Zeitung eine Anzeige, dass in Aumühle der Schneider Schmalfeld eine Näherin suchte. Bis 1948 machte sie täglich ihren Weg zu Fuß nach Aumühle, im Winter über die Felder, sonst auf einsamen Wegen durch Wald und Natur. Bis der Vater ein Rad baute, war sie auf das schlechte Schuhzeug angewiesen, aus Fahrraddecken selbst fabriziert. In der Frühe ging es in der Dunkelheit los, und bei der Heimkehr war es meist schon wieder dunkel.
Nachzutragen ist noch, dass die Pferde bei den Bauern Jammer und Schröder Stall und Futter bekamen und dafür arbeiteten. Die anderen kamen nach Büchsenschinken. Die trächtige Stute warf ein totes Fohlen. Es hatte die Strapazen nicht überstanden. Als der Vater später ein Pferd zurücknehmen musste, konnte er sich für den Verkaufserlös einen Anzug leisten!“