Der Reinbeker Ortsteil Prahlsdorf wurde im Volksmund „Rote Republik“ genannt, denn als überwiegende Arbeitersiedlung hatte er einen großen Anteil an Kommunisten. Walter Sanmann erzählt von seiner Kindheit dort:
„Das Prahlsdorf unserer Kindheit hatte Grenzen, die von der Gärtnerei Schröder bis zum Schützenhof gingen, und sie mussten von uns Kindern sehr genau respektiert werden. Am Schützenhof stand auch das Reinbeker Ortsschild. Das echte Prahlsdorf lag aus unserer damaligen Sicht auf der linken Seite der Schönningstedter Straße, vom Zentrum aus gesehen. Das sind die Kampstraße, der Prahlsdorfer Weg und die Schützenstraße. Alle Straßen waren Sandwege, die Fußwege wurden auf der einen Seite durch Bäume begrenzt, auf der anderen Seite war alle 10 bis 15 Meter ein dicker Pfahl eingegraben. Auf der linken Seite der Schützenstraße gab es nur Acker, genauso wie im Prahlsdorfer Weg. Hier weideten sogar noch Kühe. Die ersten zehn Häuser in Prahlsdorf wurden 1935 bezogen. Da es zu der Zeit noch keinen Wasseranschluss gab, wurde bei Familie Homes, Prahlsdorfer Weg 39, eine Wasserpumpe mit einem Hochdruckkessel montiert. Auf diese Weise erhielten die Häuser eine Wasserversorgung.
Die Grundstücke waren rund 1.000 qm groß. Die Prahlsdorfer hatten schon immer ihr Land mit Gemüse, Kartoffeln und Obstbäumen bepflanzt. Das taten nun auch die so genannten Neubürger. Viele Familien nahmen sich noch einen Schrebergarten hinzu. Diese Gärten lagen zwischen der Kampstraße und dem heutigen Großen Ruhm. Einige Bewohner hielten sich ein bis zwei Schweine, die sie mit Abfällen und Grünzeug aus dem Garten fütterten. Auch in der Feldmark wurde Futter geschnitten, Steckrüben, Heu und Haferstroh mitgenommen und damit das Vieh gemästet.
Fast jede Familie in Prahlsdorf hatte Hühner und Kaninchen, manche hielten auch einige Schafe, Gänse, Enten oder Ziegen. Es gab auch in Prahlsdorf Pferde und zwei Kühe, natürlich auch viele Hunde und Katzen. Ich selbst hatte 30 bis 40 Kaninchen zu versorgen; so hatten wir in der Kriegszeit immer einen Sonntagsbraten.
Zum Winter wurden überall die Schweine geschlachtet. Dann kam der Schlachter Harders und machte seine Arbeit. Wenn dann das Schwein zum Aushängen und -kühlen auf der Leiter hing, wurde die Aktion erst einmal ordentlich begossen. Danach zog Schlachter Harders mit dem Schlachttrog auf der Karre zum nächsten Kunden weiter. Wir Kinder halfen am Schlachttag auch mit, indem wir Därme, Blase und Magen mit Alaun sauber machten, damit abends beim Wurstmachen alles gefüllt werden konnte. Zwischendurch kamen die männlichen Nachbarn vorbei, um das Gewicht des Schweins zu taxieren. Dabei war auch wieder ein kräftiger Schluck fällig.
Am Nachmittag kam der Schlachter dann wieder, schon mit etwas runden Füßen, um das Schwein aufzuteilen. Auch das Einsalzen von Speck und Schinken machte er selbst. Alles, was dann noch herzustellen war – Mettwurst, Leberwurst, Sülzwurst und viele Köstlichkeiten – wurde bei uns von meiner Großmutter gemacht. Sie ging auch zu anderen Leuten, um Wurst zu machen, denn das war ihre Spezialität.
Da die Schweine früher leicht an Schweinepest oder Rotlauf erkrankten, was für die Tiere tödlich war, schlossen sich die Schweinehalter zusammen und gründeten eine Schweinegilde. Die Mitgliedschaft schloss eine Versicherung mit ein. Diese Versicherung übernahm die Kosten bei der Schweineimpfung zu 50%. Der Erfolg stellte sich sehr schnell ein. Seitdem wurde jedes Jahr im Schützenhof der ‘Schweineball’ gefeiert. Dieses Fest war der Höhepunkt des Jahres in Prahlsdorf, zugleich ein klein wenig Heiratsmarkt, denn es kamen viele junge Leute aus den Nachbarorten dazu. So manche Ehe bahnte sich dort an!
In unserem Haus wohnten vier Familien. Oben lebten August Walter und Hein Frank, von dem ich das Kaninchenschlachten lernte. Der kleine Nebenerwerb brachte pro Kaninchen 50 Pfennige ein. August Walter hat immer unsere zwei Schweine gefüttert und sie auch dressiert, er konnte mit ihnen frei im Garten umherlaufen.
Dem Wohnhaus gegenüber lag der Zimmerplatz meines Großvaters. Dahin habe ich immer die Kaninchen – manchmal in einem Kinderwagen Baujahr 1920 – zum Grasen gebracht.
Bis kurz vor Kriegsbeginn hatten nur wir ein Telefon. Das wurde natürlich von der ganzen Schützenstraße genutzt, um zum Beispiel den Arzt anzurufen oder ein Taxi zu bestellen. Wenn ein Kind zur Welt kommen sollte, wurde die Hebamme Schwester Clara, die am Mühlenteich wohnte, angerufen. Sie kam dann mit dem Fahrrad angeradelt. Und manchmal kam sie auch zu spät, dann hatte meine Mutter häufig schon dem Kind auf die Welt geholfen.
Auf dem Zimmerplatz feierte man noch nach altem Zimmermannsbrauch. So wurde das Klatschen mit 4 Zimmerleuten geübt und das Singen von typischen Liedern. Zum Beispiel ‘Steh auf, du alter Zimmergesell’ oder ‘Ein Grobschmied aus Gohdero’.
Der 1. Mai war für uns in jedem Jahr ein besonderer Tag, dann wurden alle Straßen geschmückt, und durch den ganzen Ort ging der Umzug des Reinbeker Gewerbebundes. Wir hatten immer einen Wagen von der Firma Puls, den vier Pferde zogen. Obendrauf stand ein festlich geschmücktes Sommerhaus oder ein Glockenturm. Hinten saßen die Alt-Gesellen. Auf dem Bock hatten der Glaser und der Schuhmacher Rudolf Kafka Platz genommen. Das Ganze wurde von allen Handwerkern – häufig in ihrer Tracht – begleitet.
Auf den 1. Mai fällt auch mein Geburtstag, aber an diesem Tag hatte ich damals keine Zeit zum Feiern. Das wurde dann am nächsten Tag nachgeholt. Mein Großvater montierte einen Adler auf einen 5 m hohen Mast, den mein Bruder, meine Cousins und ich nach bestimmten Regeln mit der Armbrust abschießen durften. Am anderen Tag kamen alle meine Freunde aus der Schützenstraße, und es ging immer hoch her. Ich hatte eine sehr schöne Jugendzeit und möchte sie nicht missen.“