Die alltäglich drängende Frage der Nachkriegszeit, die Frage nach Nahrungsmitteln, beschäftigte auch Ulrich S. häufig. Wie der damals 11-Jährige in Reinbek und Umgebung an Essen kam, erzählt er hier:
„In den letzten Tagen vor dem Beginn der Besetzung Reinbeks durch das britische Militär zogen von Wohltorf kommend deutsche Kampfverbände aller Waffengattungen die Wohltorfer Straße in Richtung Schönningstedter Straße entlang. Besonders intensiv war der Rückzug in den letzten zwei Tagen vor dem Einmarsch der Engländer. Unter der Wohltorfer Brücke wurden mehrere Dynamitsprengsätze für eine spätere Sprengung der Brücke angebracht. Am letzten Tag vor dem Einmarsch der Briten bezog dann ein Sprengkommando und Schützen mit zwei MG 42 auf dem Weg zur Wohltorfer Schlucht ihre Stellung. Das Kommando hatte sich zum eigenen Schutz in mehreren Gräben verschanzt.
Zwei Männern ist es zu verdanken, dass eine Sprengung und Verteidigung der Brücke verhindert wurde. Am Abend vor dem Einmarsch der Engländer kam der Chefarzt des damaligen Militärlazaretts (es befand sich im Sophienbad) mit einem PKW, der mit einer großen Rot-Kreuz-Fahne über dem Dach bedeckt war von der Bernhard-Ihnen-Straße angefahren und erklärte gemeinsam mit dem Führer des Volkssturms dem Sprengkommando, dass Reinbek zur Lazarettstadt erklärt worden sei und damit jede Kampfhandlung zu unterbleiben hätte. Die Aussage entsprach allerdings nicht der Tatsache. Wahrscheinlich durch die Dienstgrade und das forsche Auftreten der beiden und dem nahen Ende des Krieges konnte erreicht werden, dass das Kommando sich zurückzog und so eine unnötige Kampfhandlung vermieden wurde.
Am nächsten Vormittag marschierten die Engländer von Wohltorf aus in Richtung Schönningstedter Straße, ohne dass ein Schuss gefallen war. Kurz danach folgte eine größere motorisierte Einheit und damit war für uns der Krieg beendet. Die britische Armee besetzte das damalige Heereszeugamt und den Rüstungsbetrieb Krupp [Glinder Weg/K 80] in Glinde, was zur Folge hatte, dass viele Häuser für die Offiziere und ihre Familien besetzt wurden. So verschärfte sich die ohnehin schon knappe Unterbringungsmöglichkeit für die vielen Flüchtlinge und ausgebombten Hamburger weiter.
Die schwere Zeit der ersten Nachkriegsjahre, die sich bis zur Währungsreform 1948 langsam änderte, führte dazu, dass die Bevölkerung alle Möglichkeiten nutzte, um ihre Lebenssituation zu verbessern. Bei den kargen Zuteilungen z.B. für Lebensmittel und Heizmaterial entwickelten die Menschen große Aktivitäten im Tauschhandel, auf dem Schwarzmarkt, beim Hamstern und allen anderen Möglichkeiten des Organisierens.
Zur Verbesserung der Versorgung war auch ich als damals 11-Jähriger aktiv. Wir Kinder gingen zum Beispiel auf den abgeernteten Feldern Kartoffeln stoppeln und auf den Kornfeldern Ähren sammeln. Diese Möglichkeit wurde von vielen Menschen wahrgenommen und so sammelten sich meist schon während der Ernte die Menschen rund um die Felder und warteten auf die Freigabe zum Sammeln. Eine begehrte Hamstertour war auch das Gemüseanbaugebiet Vierlanden, die allerdings nur uns Kindern vorbehalten war.
Vierlanden war Sperrgebiet, in das man nur hinein kam, wenn man dort polizeilich gemeldet war. So wurde zum Beispiel in der Vierländer Eisenbahn vor der Abfahrt des Zuges vom Bergedorfer Bahnhof der Ausweis von jedem einzelnen Fahrgast kontrolliert. Wer nicht in Vierlanden gemeldet war, musste den Zug wieder verlassen. Da wir Kinder keine Ausweise besaßen, wurden wir nur nach unserem Wohnort gefragt, der selbstverständlich mit einer Adresse in Vierlanden beantwortet wurde.
Unser Hauptgebiet zum Hamstern war in der Nähe der Bahnhöfe Curslack und Kirchwerder. Die Vierländer Gemüsebauern waren zu uns Kindern immer recht freundlich und verkauften uns zu fairen Preisen Tomaten, Bohnen, Äpfel, Birnen usw. Das Gehamsterte kam in zwei Körbe und in einen von meiner Mutter genähten Rucksack. Dann ging es zurück in die Nähe des Bahnhofes. Hier versteckten wir uns, denn zeitweise wurden von der Polizei am Bahnhof Razzien durchgeführt. Erwischte man uns, wurde uns die Hamsterware wieder abgenommen. Wenn wir den Zug kommen hörten, liefen wir in letzter Minute zum Bahnhof. Ich habe es aber auch erlebt, dass ich keuchend am Bahnhof ankam und die Polizei mich in den Zug ließ, ohne dass ich etwas zurücklassen musste. Auch in Bergedorf fanden auf dem Bahnsteig zeitweise Kontrollen statt. Darum stieg ich oft schon in Bergedorf-Süd (in der Nähe des Frascatiplatzes) aus, ging zu Fuß zum Bergedorfer Bahnhof und fuhr von dort weiter nach Hause. Für die Versorgung mit Heizmaterial gingen wir auch auf Organisationstour. Auf diese Weise wurde so mancher kleinere Baum mit Angst, Schweißtropfen und viel Arbeit in der nähren Umgebung gefällt. Im Vorwerksbusch, der damals kommerziell total abgeholzt wurde, haben wir mit dem Sammeln von Ästen unseren Vorrat zum Heizen ergänzt.
Wie schon erwähnt, verbesserte sich die Versorgungslange mit dem Tage der Währungsreform, und praktisch über Nacht war alles wieder zu haben. Ich erinnere mich noch gut daran, dass unsere Mutter meiner Schwester und mir je einen 50-Pfennigschein gab und uns erklärte, wir sollten dieses Geld nicht gleich ausgeben, denn sie wüsste nicht, wann wir wieder etwas bekämen. Ich habe diesen Schein auch eine längere Zeit bei mir getragen und allen Verlockungen von Kaufangeboten widerstanden.“