Das mit dem Studium hat schon einmal geklappt! Doch das Studentenleben bietet so viel mehr als Lesen und Lernen. Im zweiten Teil ihrer deutsch-englischen Jugenderinnerungen erzählt Ursula Dietrichs von Praktika, Sozialdienst und einer einflussreichen Begegnung:
„Im März 1947 machte ich mein Abitur und begann das Studium am Pädagogischen Institut in Hamburg. Das Leben wurde wieder etwas ernster. Nicht nur, dass man sich einarbeiten musste in Basisfächern und Seminare, an den Umgang mit den anderen Studenten musste man sich auch gewöhnen. Viele Kommilitonen waren älter, geprägt von harten Kriegserlebnissen, frustriert oder deprimiert. Einer von ihnen war mein Kumpel Günter, der durch eine Kriegsverletzung ein Auge verloren hatte und uns mit grausamen Details seiner Kriegsgefangenschaft zuschüttete. Er war krank an Leib und Seele, und wir wünschten insgeheim, er würde mit seinem Pessimismus nicht auf Kinder losgelassen werden. Günter wurde kein schlechter Lehrer; nach wenigen Jahren im Schuldienst verunglückte er tödlich mit dem Motorrad.
Auch in den Schulpraktika stießen wir auf nachkriegsbedingte Armut, es fehlte an allem: Bücher, Hefte, Bleistifte, Anschauungsmaterial. Noch immer gab es Schulspeisung und Vitaminpillen, die den hungernden Kindern eine gewisse Grundversorgung sicherten. Mein Mathematik-Praktikum absolvierte ich an der Jungen-Volksschule Große Freiheit. Hatte ich einen Bammel vor den Burschen der 6. Klasse und erst recht vor der Bruchrechnung, die ich mathematisch ziemlich Unterbelichtete ihnen beibringen sollte! Unser Mentor erzählte, nicht ohne ein hämisches Grinsen, dass an jedem Montagmorgen die Kerle erst einmal heiß geduscht und entlaust werden müssten.
Den vierwöchigen Sozialdienst leistete ich – freiwillig – in der Bahnhofsmission des Hamburger Hauptbahnhofs. So viel Elend und Leid hatte ich noch nie gesehen wie auf den Bahnsteigen, wo die Flüchtlingszüge mit verstörten Müttern und heulenden, halbverhungerten Kindern ankamen: nur mit Handgepäck, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft, dazu desillusionierte Kriegsversehrte, Heimatlose, Vereinsamte. Wir konnten nur mit etwas praktischer Hilfe, einer provisorischen Unterkunft, einem Teller heißer Suppe, guten Ratschlägen oder mit einer tröstenden Umarmung Beistand leisten. Ich empfand die ungewohnte, seelisch belastende Arbeit als sinnvoll, sie machte mich nachdenklich und vor allem dankbar, dass meine Familie die Kriegszeit in Hamburg relativ gut überlebt hatte.
In meine Anfangsstudienzeit fiel auch eine Begegnung, die sehr einflussreich für die folgenden Jahre war. Auf dem Jugendhof Barsbüttel lernte ich während einer Jugendfreizeit die junge Lehrerin Astrid S. und Herrn Warncke kennen, einen Sozialpädagogen, der nicht besonders gut auf die Studenten zu sprechen war. Er forderte provozierend und politisch stark links ausgerichtet die Anwesenden immer wieder auf, endlich aktiv zu werden, praktische Arbeit beim Wiederaufbau Deutschlands zu leisten, den überflüssigen Kram des Studiums über Bord zu werfen! Er nervte – und doch traf er irgendwie ins Schwarze und ließ mich aufhorchen, als Astrid S. von dem internationalen Workshop eines englischen Jugendherbergsverbandes (YHA) in der Martinistraße in Hamburg-Eppendorf berichtete. Die heruntergekommenen, teils zerstörten Baracken der einstigen Jugendherberge sollten von Freiwilligen wieder hergerichtet werden. Mein Entschluss stand fest: ‘Das ist mein Ding!’“