Im ersten Teil ihrer Geschichte berichtete Hilde Tidow vom Kriegsende. Wie es ihr in den folgenden Jahren erging, von ihrer Lehre und von glücklichen, durchtanzten Nächten erzählt sie nun im zweiten Teil:
„Da ich schon 16 Jahre alt war, wurde ich vom provisorischen Arbeitsamt zur Landarbeit auf Gut Schaumann verpflichtet. Wir mussten Porree pflanzen, Flachs ziehen, Rüben und Möhren hacken und was sonst noch alles anfiel. Es gab auch ein wenig Geld für die Arbeit. Am schlimmsten war der tägliche Hin- und Rückweg zu Fuß. Es gab doch weit und breit nur Felder. Ab und zu begegnete einem mal ein Engländer auf Patrouille, der schon mal einige Fragen stellte. Mit dem wenigen Schulenglisch konnte ich mich etwas verständigen. Als im August immer noch keine Aussicht bestand, dass die Schule wieder beginnen würde, beschloss ich, mir eine Arbeit bzw. Lehrstelle zu suchen.
Bei meinen Großeltern war eine ältere Dame einquartiert, mit der ich mich oft unterhielt. Ich erzählte ihr, dass ich gern in die Landwirtschaft wollte. Sie hatte eine Schwägerin, die in Hassendorf bei Eutin einen Bauernhof mit Gastwirtschaft besaß und auch Lehrlinge ausbildete. Nach wochenlangem Briefwechsel gelang es ihr endlich, einen Kontakt herzustellen. Ich erhielt für den 1.10.1945 eine Lehrstelle in diesem Betrieb.
Schon die Anreise nach Eutin war ein Abenteuer für sich. Es dauerte 1 ½ Tage, bis ich endlich in Eutin ankam. Doch wie nun nach Hassendorf kommen, das 7 bis 8 km entfernt war? Ich erkundigte mich beim Bahnhofswirt. Der fragte, zu wem ich denn wolle. Als er den Namen der Bäuerin hörte, sagte er mir, dass die gerade mit dem Fuhrwerk hier wäre und dort am Tisch säße der Verwalter. Ich stellte mich bei ihm vor. Obwohl er sehr skeptisch war, ließ er mich am Tisch Platz nehmen. Frau B. sei noch unterwegs und werde wohl bald kommen. So gelangten wir spät abends im Dunkeln müde und hungrig auf dem Hof an. Ich habe es genossen, nach langen Wochen mich endlich wieder satt zu essen und in ein schönes Bett zu sinken.
Ich bewohnte zusammen mit einer sehr netten Kollegin, die drei Jahre älter war als ich, ein kleines Zimmer oben im Haus. Die übrigen Zimmer, früher für Gäste, waren mit Flüchtlingen aus Ostpreußen belegt. Obwohl wir morgens sehr früh aufstehen mussten, machte die Arbeit viel Spaß. Alle 14 Tage gab es am Sonntagnachmittag frei. Meine Chefin bemühte sich sehr, bei der Landwirtschaftskammer zu erreichen, dass ich als Lehrling anerkannt würde. Damals ging bei den Behörden wohl alles drunter und drüber. Nach vielem Hin und Her wurde es möglich. Nur eine Berufsschule gab es noch nicht.
Neben der Arbeit gab es auch Vergnügen
Abends trafen sich im Dorf alle jungen Leute. Wir haben auf der Wiese gesessen und gemeinsam gesungen und Spiele gemacht. Neben der Dorfschule stand ein großes Zelt. Dort waren gefangene deutsche Soldaten untergebracht, die in der Ernte eingesetzt wurden. Nach Feierabend musizierten sie, und wir alle konnten dort tanzen. Das Tanzen brachten uns die Flüchtlingsfrauen in dem ehemaligen Festsaal mit einem Besen bei. Mein erster Tanz war ein langsamer Walzer: ‘Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein’. Wir haben viel Spaß gehabt.
Im nächsten Jahr gingen wir am Wochenende ins Nachbardorf, wo schon richtige Tanzveranstaltungen stattfanden. Wenn um 24 Uhr die Sperrstunde begann, wurde die Tür geschlossen, und wir tanzten die Nacht durch. Gemeinsam ging es dann am Morgen Arm in Arm die 5 km zurück mit Gesang und viel Gelächter.
Wieder kommen Flüchtlinge
Im Frühling 1946 kamen noch einmal viele ausgewiesene Flüchtlinge aus Pommern zu uns. Der ganze ehemalige Saal wurde belegt. Alle hatten nur ein kleines Plätzchen für sich, ohne auch nur mal alleine zu sein. Auch wir Mädels mussten unser Zimmer räumen und ein noch kleineres im Erdgeschoss beziehen. Sehr oft kamen hungrige Menschen an unsere Tür und baten um ein paar Kartoffeln. Wir gaben, sooft wir nur konnten.
Zu Hause in Reinbek
Zum ersten Mal nach Reinbek fuhr ich Weihnachten 1945. Mein Vater war aus russischer Kriegsgefangenschaft in Kurland gekommen. Nachdem er sich einige Wochen erholt hatte, begann sein Dienst wieder auf der Reinbeker Post. Bald machte er sein Versprechen wahr, das er unserem jüngsten Bruder gegeben hatte: ‘Wenn ich aus dem Krieg komme, bekommst du ein Pferd’. Eines Tages stand bei uns ein Pferd, auf dem die Jungs reiten konnten und das auch einen Wagen ziehen konnte. Der wurde auch bald angeschafft. Einige Zeit später hatte mein Vater zwei mittelgroße Pferde.
Er pachtete die Koppeln neben unserem Kleingarten von Puls und bewirtschaftete sie intensiv mit Hilfe seiner Söhne. Wenn es aufs Feld ging, durften all die kleinen Kinder aus der Nachbarschaft mitfahren. Was war das stets für eine Riesenfreude!
Als ich mal wieder zu Besuch war, ging es zur Kartoffelernte aufs Feld. Mein Vater pflügte die Kartoffeln aus und die Kinder sammelten mit Begeisterung. Für jeden Korb gab es 5 Pfennige; Vater konnte es kaum schaffen, die vollen Körbe zu leeren. Es war eine Freude, diese eifrigen Kinder zu erleben. – Vater bewirtschaftete die Felder viele Jahre, bis sie so nach und nach bebaut wurden und er aus Altergründen die Landwirtschaft aufgab.
Wieder auf dem Bauernhof
Ich beendete meine 2-jährige Hausarbeitslehre am 30.9.1947 mit der Abschlussprüfung. Das dritte Lehrjahr musste ich auf einem anderen, größeren Hof absolvieren. Das war der Obersteenrader Hof bei Ahrensbök. Wir waren vier Lehrlinge. Dort erlebte ich im Sommer 1948 die Währungsreform. Es war schon erstaunlich, was sich über Nacht alles veränderte. Wir alle hatten nur einen großen Wunsch: endlich ein Fahrrad! Unser Verdienst war nach der Lehre 40 DM im Monat. Aber für 40 DM gab es noch lange keins. Außerdem fehlte es auch an Kleidung usw. Also hieß es: sparen. Erst 3 Jahre später hatte ich es geschafft.
Nach einem Jahr, die Lehre war beendet, musste ich mir zum 30.9.1948 eine neue Stelle suchen.
Auf Fehmarn
Schon lange hatte ich den Wunsch, einmal auf einer Insel zu arbeiten, aber nicht in der Nordsee. In der Bauernzeitung suchte eine Bäuerin auf der Insel Fehmarn eine Hauswirtschafterin. Ich bewarb mich erfolgreich. Es war ein mittelgroßer Hof mit drei kleineren Kindern, 6 und 5 Jahre alt und ein Sohn von 8 Monaten. Er wurde mein kleiner Liebling.
Es war damals sehr schwer, mit den Einheimischen auf Fehmarn warm zu werden. Doch mir ist es gelungen und ich habe gern dort gearbeitet und sehr schöne Jahre verlebt. Es wurde viel gefeiert und reichlich gegessen nach all den trostlosen Jahren.“