Helmut Busse erinnert sich an die Zeit zwischen 1945 und 1949. Er erzählt von Not leidenden Flüchtlingen, seiner Schulzeit und von der russischen Besatzung:
„Ich bin Jahrgang ‘39 und wuchs am Rande einer Kleinstadt (Salzwedel) in der von uns so genannten ‘Ostzone’ auf. Nach Durchzug der Amerikaner und Briten kamen die Russen. Mit Panjewagen zogen sie in die Kasernen von Salzwedel ein. Die Kommandantur war in einer beschlagnahmten Arztvilla untergebracht.
Am 1. September 1945 kam ich in die Schule. Die ersten ein bis drei Male brachte mich meine Mutter hin. Wir waren ca. 70 – 80 Jungen in der Klasse, zumeist Flüchtlinge aus dem Osten.
Eines Tages, es muss November und sehr kalt gewesen sein, denn wir trugen alle schon Winterkleidung, brachte eine Mutter einen Gleichaltrigen während des Unterrichts in die Klasse. Beide weinten. Der Junge war barfuss und hatte eine kurze HJ-Hose und einen dünnen, hellgrünen Pullover mit langen Ärmeln an. Dieses Bild hat sich mir bis heute eingeprägt. Unser Klassenlehrer, genannt Opa Krug, gab den meisten Jungen einen Brief für unsere Eltern mit. Viel später erfuhr ich, dass er die Einheimischen um Kleider- und Schuhspenden gebeten hatte, was von meinen Eltern auch unterstützt wurde.
Bedingt durch diese entbehrungsreiche Zeit hielten wir auch Vieh. Das war uns möglich, denn wir hatten ein Siedlungshaus, keine Kriegsschäden und waren weder vertrieben worden, noch mussten wir flüchten. Ein Schwein, etwa 10 Hühner und ein Hahn, eine Ziege und ab und zu Gänse oder Kaninchen nannten wir unser Eigen. Dafür musste Land angepachtet werden, um auch Grünfutter zu haben. Das Schwein wurde auf über fünf Zentner (250 kg) gemästet, sodass es sehr fett wurde. Wegen der schweren Arbeit meiner Eltern und der Kälte im Winter brauchte man Energie. Wie damals üblich, gab es nur Ofenheizung und fast nie Kohle. Die Schlachtung der Schweine fand meist im Februar statt mit Absprache der Nachbarn in etwa 14-tägigem Abstand. Fast alle tauschten untereinander frische Wurst, Brühe und Stichfleisch. Erwähnen muss ich noch, dass meine Eltern die Hälfte des Schweins an notleidende Menschen verschenkten.
Wir hatten also keine Not und haben nie Hunger gelitten. Ich habe sogar Essen verschmäht, zum Beispiel Kürbis-, Steckrüben-, Bier- und Brotsuppen. Zum Unterricht bekam ich Stullen mit, gewöhnlich eine Woche lang Schinken, Leber-, Blut- oder Mettwurst, auch Schmalzstullen. Aber da auch nach einer Teilung noch sehr viele Flüchtlingskinder in der Klasse waren, gab ich immer viele oder alle Stullen ab bzw. tauschte diese gegen trockenes Brot (mit Zucker bestreut) oder Kunsthonig.
Um den Feuerungsbedarf zu decken, holte mein Vater sich die Erlaubnis, Stubben roden zu dürfen. So zogen wir – mein Vater, ein Nachbar und ich – mit Handwagen, Äxten, Brechstangen, Vorschlaghammer, Spaten und Bügelsäge in den Wald, um die Stubben auszugraben. Das war eine Knochenarbeit. Öfter ging auch mal ein Handwagen durch Überladen kaputt. Dann musste mein Vater, der als Bauernsohn aufgewachsen war, den Wagen reparieren. Manchmal wurde das Holz durch einen Bauern mit einem Pferdewagen gebracht. Das Holz wurde zu Hause ofengerecht zersägt, gespalten und zu Diemen aufgestapelt. Das sind runde, zuckerhutförmige Holzstapel, wenn möglich mit alten Wellblechen oder Teerpappe überdacht. Welche Entbehrungen unsere Eltern durchmachten, konnte ich erst sehr viel später erkennen und einschätzen lernen.
Eines Tages klopfte es laut an unsere Haustür. Ein russischer Offizier und zwei Soldaten mit MP fragten meine Mutter, ob Waffen im Haus wären. Meine Mutter brachte ein Kinder-K 98, so richtig mit Funktion, aber nicht schusstauglich. Der Offizier besah sich das Gewehr und gab es lächelnd zurück. Mein Vater nahm es abends an sich und ich sah es nie wieder.
Irgendwann wurden die russischen Kampftruppen durch Trosstruppen und viele Offiziersfrauen ersetzt. Die Russen tranken sehr viel, plünderten und vergewaltigten viele Frauen in Salzwedel. Damals wusste ich noch nicht, was das alles bedeutete. Eines Tages, zwei Freunde und ich angelten mit Schnur und Drahthaken von einer Brücke aus, kamen zwei junge Frauen mit einem Kinderwagen auf die Brücke und sahen uns zu. Kurz darauf kamen auch 5 bis 6 Russen langsam näher, sprachen und lachten mit den Frauen. Zusammen gingen sie dann den Flussweg zu einem Buschwäldchen. Wir hörten laute Frauenschreie. Tags darauf sprachen die Erwachsenen über die Vergewaltigung. Wir erzählten, was wir gesehen und gehört hatten. Die Erwachsenen sahen sich an und sagten nur: ‘so war das also…’.
Zu uns Kindern waren die Russen sehr nett. Wir durften sogar ihre Ponys hüten. Sie tranken vor ihren Zelten auf der Wiese und gaben uns Speck und Wodka ab. Einmal nahm ein Russe meinem Vater sein Fahrrad weg. Mein Vater ging zur Kommandantur und beschwerte sich. Ein paar Tage später durfte er sein Fahrrad abholen. Auch so etwas gab es.
Bei Spielen erlebten wir Jungen auch folgendes einmal: Ein betrunkener Russe war über einen Wiesengraben gesprungen und wollte über einen mannshohen Maschenzaun in einen Schrebergarten klettern, was ihm misslang. Etwa eine halbe Stunde später kam ein russischer Offizier zusammen mit Soldaten angeritten. Die Soldaten zerrten den Betrunkenen durch den Graben und banden seine Hände über Kopf zusammen hinter ein Pferd. Dann ritten sie fort, den Soldaten hinter sich herschleifend.
Russische Soldaten versuchten auch, Benzin zu ergattern. Da die Bevölkerung nichts hatte, füllte sie Wasser in die Kanister. So blieben die Autos bald stehen. Irgendwann normalisierte sich das Leben. Wir Kinder kannten ja sowieso nichts anderes.“