Die dunklen Jahre 1945-1948 waren keine einfache Zeit für die junge Ilse H. Im zweiten Teil ihrer Geschichte erzählt sie aber auch Erfreuliches: von Schulferien, ihrer Ausbildung und vielem mehr. Gisela Hackbarth hat es festgehalten:
„Wir hatten 1945 monatelang keinen Unterricht. Damit wir nicht ganz verwilderten, erteilte unsere Englischlehrerin Fräulein Bauck einigen Schülerinnen und Schülern bei uns in der Wohnung Englischunterricht. Als im November 1945 der Schulunterricht wieder begann, war unser Schulgebäude noch immer besetzt. Wir hatten Unterricht in der Villa Tiefenbacher in der Waldstraße und im Hause Dobbertin in der Goetheallee. In der großen Pause mussten wir immer von einem Gebäude zum anderen wandern. Auf dem Grundstück der Tiefenbachers stand ein kleines Bethaus, dort haben wir uns in den Pausen versteckt und unsere ersten Zigaretten – Camel – geraucht.
In den Sommerferien 1946 fuhren einige Mädchen und Jungen meiner Klasse an die Ostsee. Wir fuhren mit dem Zug dorthin und bauten ein Zelt für die Mädchen und eins für die Jungen auf. Wir hatten auch ein paar Fressalien mitgenommen. Ansonsten holten wir uns etwas Gemüse und ein paar Kartoffeln von den Feldern und kochten selbst. Es war unser erster Urlaub und es war herrlich, auch einmal ohne elterliche Aufsicht zu sein.
An die Schulspeisung habe ich wenige Erinnerungen. Für uns Mittelschüler fand die Austeilung draußen vor der Villa Tiefenbacher statt und wurde von Schularzt Dr. Ramon v. Ondarza beaufsichtigt. Die Kekssuppe mit Milch schmeckte gut. Am liebsten mochte ich aber die Sojasuppe, denn sie enthielt ein ganz bisschen Fleisch. Ich glaube, die Schulspeisung wurde von der „Care Organisation America“ gestiftet.
Im Frühjahr 1948 machte ich meinen Mittelschulabschluss. Wir waren so viele Schülerinnen und Schüler, dass unser Lehrer es nicht schaffte, alle Zeugnisse selbst zu schreiben. Also mussten wir helfen, dh. Schüler schrieben für ihre Mitschüler Namen, Geburtsdatum und Geburtsort auf das Zeugnisformular. Ich selbst bin in Bad Oeynhausen geboren. Der Mitschüler, der dieses Wort schreiben sollte, hat sich so oft verschrieben und immer wieder radiert, dass mein Zeugnis schließlich ein Loch hatte. Ein zweites Blatt Papier gab es nicht. Auf unseren Zeugnissen war das Reinbeker Wappen, welches Prof. Taubner entworfen hatte.
Nach Beendigung der Schule fand ich eine Lehrstelle im Papierwarengeschäft Erdmann in der Bahnhofstraße. Ich machte dort eine Lehre als Buchhändlerin. Ich verdiente 35 RM (Reichsmark). Zu unseren Pflichten als Lehrlinge gehörte auch das Putzen des Ladens und der Fenster.
Zunächst hatten wir außer ein paar Leseheften, den Rowohlts Rotations-Romanen, nur ‘Kunstgewerbe’ anzubieten, das waren Gegenstände aus Holz, Papier und Pappe. Diese Rowohlts Rotations-Romane hatte Ernst Rowohlt zusammen mit Heinrich Maria Ledig-Rowohlt entwickelt. Auf Zeitungspapier, ohne Einband und ohne Heftung wurde ein ganzer Roman im Zeitschriftenformat
(28,5 cm breit und 38,5 cm hoch; etwa die Größe der heutigen Morgenpost) gedruckt und für 50 Pfennig (Reichspfennig) verkauft. Zu den ersten Autoren zählten deutsche wie auch ausländische; darunter waren Joseph Conrad, Kurt Tucholsky, Ernest Hemingway, Antoine de Saint-Exupéry und viele andere.
Dann kam die Währungsreform und über Nacht, im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht, waren wir mit den schönsten Büchern bestückt. Anders als erwartet, konnten wir viel verkaufen. Der Hunger auf Lektüre war bei vielen sehr groß. Es kamen auch Schriftsteller in die Buchhandlung und lasen aus ihren Werken. Ich erinnere mich an Autorenlesungen mit Emma Gündel, die die „Elke“-Bücher und an Waldemar Bonsels, der „Biene Maja“ schrieb.
Das Schöne und Interessante meiner Lehre war die Einführung in die Welt der Literatur und der Oper. Wir erhielten die Möglichkeit, Vorträge und Lesungen in Hamburg zu besuchen. Herr Erdmann schenkte uns oft Opernkarten. Vor der Aufführung gab er uns nach Feierabend im Laden eine Einführung in das Werk und die Musik. Das Hamburger Opernhaus war damals noch zerstört und wir, das Publikum, saßen während der Vorstellung auf der Bühne des zerbombten Hauses. Herr Erdmann hat für uns Lehrlinge viel getan.
Trotz aller Ängste und Not haben wir als Kinder und Jugendliche eine schöne Zeit erlebt; sie war voller Freiheit, aufregenden Abenteuern und neuen Erfahrungen.“