Rosemarie Busse (geboren 1940) erinnert sich an die russische Besetzung, an die Flucht aus den Ostgebieten und an die Ankunft in der neuen Heimat:
„Mein Vater fiel 1942 in Russland, sodass meine Mutter mit meiner Schwester und mir zu ihren Eltern nach Hinterpommern zog. Als im Herbst 1945 Russen und Polen in unsere Stadt kamen, begann eine Zeit der Angst und des Schreckens. Nachts kamen polnische Banden, die uns Sachen wegnahmen, am Tag kamen Russen, die ‘Ausschau’ nach Frauen hielten. Unsere Großmutter starb im Oktober an Krebs, wir alle bekamen Typhus. Da unsere Mutter wegen der Trauer um unseren Vater und ihre Mutter schwarze Kleidung trug und sehr blass aussah, wurde sie ‘nur’ zu Arbeiten verpflichtet. Nachts musste sie zusammen mit anderen Frauen Möbel etc. aus Häusern und Wohnungen zum Bahnhof transportieren. Morgens durfte sie wieder nach Hause gehen. Uns Kindern taten die Russen nichts, sie waren freundlich.
Im Haus der Großeltern wurden ein alleinstehender Pole im Schlafzimmer und eine große Familie im früheren Laden unserer Großmutter einquartiert. Nach mehreren nächtlichen Überfällen brachte der Pole, dessen Namen ich nicht mehr erinnere, einen Zettel am Fenster an, auf dem sinngemäß stand, dass hier nur Polen wohnten. Von da an hatten wir Ruhe.
Im März 1946 konnte meine Mutter durch eine Geldsumme erreichen, dass man uns mit einem Lastwagen bis nach Stettin, der Landeshauptstadt, mitnehmen wollte. Auf unserem Weg zum vereinbarten Treffpunkt wurden wir geschnappt (meine Schwester und ich trugen weiße Angoramützen, weiße Schals und Muffs und leuchteten förmlich in der Nacht!). Auf der Kommandantur wurde unser Großvater geschlagen, man nahm uns unsere Sachen weg und schickte uns wieder nach Hause. Mutter zahlte nochmals eine Geldsumme und es gelang uns, bis nach Stettin ins Lager zu kommen. Dort waren wir über Ostern, kamen dann mit einem Transport im Viehwaggon nach Segeberg ins Lager und einige Tage später nach Reinbek.
Wir hatten doppelt und dreifach Kleidung an und unsere Mutter hatte uns Rucksäcke aus Handtüchern genäht. So hatten wir später Kleidung zum Wechseln und Handtücher. Auch unsere Fotos aus den Alben waren in unseren Rucksäcken. Alles lässt sich ersetzen, sagte sie, nur diese Dinge nicht. So umsichtig und vorausschauend war unsere Mutter.
In Reinbek angekommen, fuhr uns ein LKW in das „Forsthaus Schreck“ am Forstplatz (Ecke Hamburger Straße/Glinder Weg). Dort lagen wir auf Strohmatten mit vielen Menschen zusammen in einem großen Saal. Nach ca. einer Woche brachte man uns in die Bahnsenallee, zunächst in ein Haus am Ende der Straße. Da die Besitzer jedoch keine Flüchtlinge aufnehmen mussten (der Mann war als Sozialdemokrat von den Nazis verhaftet worden), kamen wir in die Bahnsenallee 18. Auf dem Dachboden (dort waren vordem die Mädchenzimmer der Herrschaften) wies man uns ein Zimmer zu. Wir bekamen auf Bezugschein Stroh, mein Großvater konnte ein langes Brett auftreiben und so kamen wir zu einer gemeinsamen Schlafecke.
Da wir ja fast nichts mehr besaßen und es auch nichts zu kaufen gab, überließ man uns auf Bitten und Drängen meiner Mutter einen Sessel und einen Tisch. Zu den Mahlzeiten saß mein Großvater im Sessel, meine Schwester und ich saßen auf der Fensterbank und meine Mutter stand. Um eine warme Mahlzeit zu erhalten, gingen wir Flüchtlinge zu den Baracken an der Hamburger Straße. Dort wurde in einer Art Suppenküche Essen ausgegeben, das uns gut schmeckte. An die Brennnesselsuppe erinnere ich mich noch gut.
Eine große Errungenschaft war ein Holzhocker, den meine Mutter auf Bezugschein erhielt. Wir besitzen ihn heute noch und halten ihn in Ehren. Nun hatten wir morgens und abends wenigstens alle Vier einen Sitzplatz! Etwas später erhielten wir ein Sofa und eine Frisierkommode. Das Sofa wurde abends an die Wand gedreht, damit meine Schwester und ich, die darauf schliefen, nicht herausfallen konnten. Mein Großvater bekam auf dem Boden dann einige Zeit später auch ein winziges Zimmer für sich. Irgendwann kam ein weiterer Hocker dazu sowie eine ‘Hexe’ (ein runder Ofen). Welch ein Luxus! Mein Onkel brachte ein Eckregal mit Haken an, so dass wir sogar eine Garderobe hatten. Irgendwie organisierte er auch ein Etagenbett aus Eisen, in dem meine Schwester und ich schliefen.
Holz für unsere Hexe holten wir auf Bezugschein aus dem Wald beim Tonteich. Nach der Schule mussten wir mit Mutter und Großvater zum Holzsammeln. Der Weg war staubig und ich hatte wenig Lust zum Sammeln. Manchmal waren Forstarbeiter da, die uns von ihren dicken Stullen welche abgaben. Das lockte mich dann wieder, zum Sammeln mitzugehen.
Einkaufen erforderte viel Geduld und Zeit. Stundenlang stand meine Mutter mit uns an, um bei Schlachter Böhme ein paar Knochen für eine Kohl- oder Steckrübensuppe zu ergattern. In der langen Warteschlange entstanden Freundschaften. Das gleiche Schicksal verband viele Menschen. Erst nach der Währungsreform gab es wieder mehr Unterschiede in der Bevölkerung.
Zur Schule, die zuerst für uns im Keller des Gymnasiums stattfand, war es ein weiter Weg. Meine Schwester und ich teilten uns eine Schiefertafel, und meine Mutter kaufte für viel Geld am Pavillon von Herrn Rehder am Bahnhof eine Umhängetasche aus grünem Segeltuch, sodass wir bestens ausstaffiert waren. In unsere Klasse gingen 72 Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren. Eine Teilung erfolgte erst später. Heute ist das alles kaum mehr vorstellbar, aber für uns war es trotzdem eine schöne Kindheit. Wir haben auf der Straße und im verwilderten großen Garten der Villa gespielt. Meistens waren wir so 20 bis 30 lärmende Kinder, sehr zum Ärger des Mieters im Parterre.
Ach ja, ‘Herzhausen’ war für die Flüchtlinge draußen im Garten. Das bedeutete, dass man vom Boden (2. Stock) raus musste, egal wie eilig man es hatte. Bei Wind und Wetter gingen wir mit Mutter gemeinsam an die frische Luft und wenn abends der Wind in den Bäumen heulte, fürchteten wir uns sehr.
Es gäbe noch so vieles aus der Zeit von 1945 bis zur Währungsreform zu berichten, aber an das Geschilderte erinnere ich mich immer noch besonders deutlich.“