Hans Walter Niemann, geboren 1928 in Reinbek, erzählt von seinen Erlebnissen nach dem Krieg. Im zweiten Teil geht es unter anderem um gute (und schlechte) Geschäfte auf dem Schwarzmarkt, britische Fäuste, farbige Brause und Fassbier:
„Im Nachhinein betrachtet war eigentlich das Leben, das sich jetzt im Juni 1945 abspielte, ziemlich normal. Man zog seine Zivilkleider an, die man zu Hause noch hatte. Man bewegte sich natürlich nicht so, wie man es früher tat, denn es waren viele Engländer in Reinbek einquartiert. Das Sophienbad war belegt mit Einheiten der Engländer. Die waren überall und man musste sehen, dass man nicht auffiel, um nicht irgendwo aufgegriffen zu werden. Es ging jetzt darum, wie man am besten an Lebensmittel kommt und was man jetzt machen kann. Arbeit musste wieder irgendwo organisiert werden. Der Beruf war natürlich nicht auszuüben. Die Verbindungen nach Hamburg waren ein Problem und es war auch keine Ware da, die man hätte verkaufen können. Also wurde der ‘Schwarze Markt’ mit Bravour entwickelt und entfaltete sich auch sehr gut. Entweder wurde getauscht oder es wurde verkauft, immer noch gegen Reichsmark. Da ich Kaufmann gelernt hatte, war es natürlich naheliegend, dass ich mich auf dem ‘Schwarzen Markt’ betätigte. Das war eigentlich ganz erfolgreich und wir brauchten nicht zu hungern.
Es wurde nicht nur mit Lebensmitteln gehandelt, es wurde eigentlich mit allem gehandelt. Das Schwierigste war, an Brennmaterial zu kommen. Da musste man schon sehen, dass man das in größeren Mengen bekam. Man brauchte es dringend zum Heizen und Kochen. Im Winter 1945/46 wurde im Glinder Weg das Birkenwäldchen restlos abgeholzt. Immer, wenn keiner zur Kontrolle da war, wurden im Dunkeln Bäume abgesägt, auf den Schlitten geladen und nach Hause gefahren. Später standen dort keine Bäume mehr.
Das interessanteste Objekt, was ich zu fassen bekam, war ein Angebot aus Hamburg. Ich konnte einen ganzen Waggon voll Koks bekommen. Der Koks war schon in der Kokerei gewesen, also schon etwa ausgebrannt, aber zum Heizen für uns war das o.k.. Ich ließ den ganzen Waggon in Reinbek ausladen. Durch die verwandtschaftlichen Beziehungen konnte ich natürlich auch entsprechendes Fuhrwerk beschaffen. Der Koks wurde dann in der Bahnhofstraße verkauft. Das war schon recht interessant. Ein anderes Mal hatte ich Stoffe im Angebot, ballenweise Stoffe für Nachthemden und Kleider. Das war auch ein recht gutes Geschäft.
Ich suchte ja Arbeit, denn das mit dem Schwarzmarkt war nicht befriedigend. Man wollte mal wieder richtig berufstätig sein. Aber es war schwierig in meiner Branche. Dann bekam ich ein Angebot von meiner Tante, vom Fuhrunternehmen Niemann, die hatte in der Endphase des Krieges ihre Autos abgeben müssen und dafür einen Wagen, einen sogenannten Rollwagen, bekommen und zwei Pferde dazu. So richtige russische Panjepferde. Da meine Tante keinen Kutscher hatte, bot sie mir an, ein kleines Rollfuhrgeschäft für sie zu tätigen. Dazu gehörte natürlich auch, dass ich die Pferde putzen und am Wagen anschirren, den Wagen be- und entladen und alles ausfahren musste, was durch die Bahn angeliefert wurde. Das war an und für sich eine ganz lustige Sache.
Es ist nun nicht so, dass ich mir das so gewünscht hatte, denn das eine Pferd hatte immer die Angewohnheit, sich nachts hinzulegen, und darum war es natürlich morgens sehr schwierig, das Tier wieder sauber zu kriegen. Das hatte ich auch nicht gelernt, aber man kann sich an alles gewöhnen. Einmal sind mir die Pferde durchgegangen, das war nicht so lustig. Das war in der Bahnhofstraße, und ich kriegte die Pferde erst kurz vor dem Eisenbahntunnel wieder zur Ruhe. Ich konnte dann vor dem Schloss umdrehen und wieder zurückfahren. Neben der offiziellen Tätigkeit wurde natürlich auch der Schwarzmarkt weiter betrieben. Man machte Geschäfte mit Artikeln, die offiziell nicht im Laden zu kaufen waren.
Den Fuhrbetrieb, das Gespann, betrieb ich noch bis zum Ende des Jahres. Ich glaube, im November war es, da kam meine Tante Martha freudestrahlend zu mir und sagte: ‘Du möchtest doch sicher gern wieder in deinen Beruf zurück und dort was tun. Ich habe von Frau Occolowitz gehört, dass sie einen jungen Mann als Verkäufer sucht.’ Sie war eine Nachbarin und ihr gehörte das Reinbeker Kaufhaus. ‘Geh doch mal rum und stell dich vor und frag, ob du das machen kannst.’
Das habe ich dann auch gleich wahrgenommen und mich abends bei ihr vorgestellt. Das Angebot war nicht so doll vom Gehalt her, aber es war besser, als weiter Pferdekutscher zu spielen. So fing ich dann, ich glaube, es war der 1. Dezember 1945, im Reinbeker Kaufhaus an. Was sie noch zu verkaufen hatten, das waren natürlich in erster Linie Schrauben, Nägel und Seifenersatz, der wurde in Tonnen geliefert. Die schöne glitschige Seife wurde dann kiloweise verkauft. Von den Textilien war so gut wie nichts mehr zum Verkaufen vorhanden. Es war alles während des Krieges und der letzten Kriegstage verkauft worden.
Da bin ich dann eine ganze Zeit gewesen. Zu Weihnachten bekam ich sogar schon ein Weihnachtsgeschenk, ein Paar Turnschuhe, die sie sicher noch irgendwo im Lager gefunden hatte und die mir auch passten. Es war schon etwas Besonderes ein Paar Turnschuhe zu bekommen. Nun musste auch versucht werden, unser Geschäft, das in der gleichen Straße lag, in der Bahnhofstraße 6a, wieder in Gang zu bringen. Der Krieg war vorbei und das normale Leben musste irgendwie wieder in beginnen. Aber da meine Mutter sehr sozial und hilfsbereit war, hatten wir an Ware überhaupt nichts mehr im Laden. Sie hatte den Flüchtlingen, die 1944/45 aus dem Osten kamen und kaum etwas mitbrachten, alles zum normalen Preis verkauft. Das haben natürlich nicht alle gemacht. Es gab ja Kollegen, auch in Reinbek, die die Ware in den Keller gepackt und versteckt hatten, was natürlich einen besseren Start nach der Währungsreform bedeutete. Sie holten die Ware dann heraus, um sie für DM zu verkaufen. Also mussten wir abwarten.
Es wurden zuerst Artikel angeboten, wie bunte Knöpfe von den Militärjacken und so weiter, die in Handarbeit bemalt worden waren. Später wurden sie maschinell bedruckt, in großen Flächen und als Besonderheit verkauft. Es wurden Handarbeiten jeglicher Art verkauft, sehr viel auch an Schnitzereien und Bastelarbeiten. Jeder musste irgendwie sehen, dass er über die Runden kam. Ich bekam dann eine Kundin, eine Malerin, die in Reinbek wohnte und die ihre Bilder gern richtig ausstellen und in einem Laden verkaufen wollte. Die schlüpfte in einem Teil unseres Ladens mit unter. Das war Jutta Spengler. Ich weiß noch, dass sie die Miete nicht bezahlen konnte und dann erhielten wir zum Ausgleich ein Bild von ihr.
Wir bekamen zu horrenden Preisen irgendwelche Textilien angeboten, die man natürlich auch zu horrenden Preisen weiterverkaufen musste. Unter dem Tisch hatte ich auch Zigaretten liegen, die ich verkaufen konnte. Das war natürlich nicht offiziell, aber es lohnte sich mitzumachen.
Es war trotz allem keine traurige Zeit. Die Menschen waren alle froh, dass der Krieg vorbei war. Es gab wieder Tanzveranstaltungen. Dabei wurden dann auch irgendwelche Getränke ausgeschenkt, wie die farbige Brause und Fassbier. Auch wir jungen Leute kamen zusammen, neue Freundschaften wurden geschlossen, man ging irgendwohin, man traf sich, es wurde eigentlich oft – mindestens am Wochenende – irgendwo gefeiert.
Es ist ja so, je länger man über die Zeit nachdenkt, desto mehr fällt einem ein. Die Tanzveranstaltungen fanden in erster Linie im Kaffeehaus Nagel statt. Dort waren geeignete Räumlichkeiten und das war natürlich auch sehr schön. Im Schützenhof waren auch Tanzveranstaltungen, die mitunter auch recht blutig ausgingen, wenn es zu Rangeleien gekommen war. Ich erinnere mich, dass ich an einen Abend ins Cafe Nagel zum Tanzen wollte. Da kam mir unterwegs ein Tommy entgegen. Ich denke: ‘Ach, der will wohl fragen, wo was ist’. Doch ehe ich mich versah, war er vor mir und seine Faust war bei mir im Gesicht. Ich war natürlich völlig unvorbereitet und fand, das war keine schöne Art, aber wahrscheinlich war er so wütend auf die Deutschen, dass er jeden verprügeln wollte.
Das waren so Nebenerscheinungen, ansonsten bin ich nie angegriffen worden. Sie haben uns mal betrogen bei den Schwarzmarktgeschäften. Die Kaffeedosen waren sehr beliebt, die wurden natürlich auch gekauft und weiterverkauft. Ich hatte eine für uns gekauft, und was war? Obendrauf war Kaffee, untendrin waren Kieselsteine oder anderes Füllmaterial. Also die wussten schon ihre Geschäfte zu machen.
Inzwischen mussten auch diejenigen, die zurückgekommen und nicht offiziell entlassen waren, sich auch entlassen lassen. Hört sich blöd an, aber sie waren immer noch Wehrmachtsangehörige der verschiedenen Gruppierungen. So wurden auch wir aufgefordert, zur Entlassung nach Bad Oldesloe zu kommen. Da traf sich dann alles, was entlassen werden sollte, wollte. Es musste auch eine Entlausung gemacht werden. Denn so konnte man die Leute ja nicht auf die Menschheit loslassen. Offiziell, meine ich, war das Entlassungsdatum August 1945. Und da gab es dann auch eine Bescheinigung, dass der Wehrsold bis 30.04.1945 ausbezahlt worden war. Außerdem wurde auch der Erhalt von Naturalverpflegung, Einheitsseife, Waschmittel usw. bis 30.04. bestätigt. Das ist ein interessanter Entlassungsschein, den ich natürlich auch dem Museumsverein zur Verfügung stelle. Da gibt es sicher nicht so viele, die ihn aufbewahrt haben.“